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Das Werk ist angerichtet. Szene aus Olivier Pys „Prophète“-Inszenierung an der Deutschen Oper.

© Bettina Stoess

Vor der Meyerbeer-Premiere: Auferstehung der Posaunen

Wie erweckt man eine gründlich vergessene Partitur zu neuem Leben? Beobachtungen in der Deutschen Oper vor der Premiere von Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“.

Es war kein Geringerer als der „Vetter aus Dingsda“-Komponist Eduard Künneke, der Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ zuletzt in der Bismarckstraße einstudiert hat. Über 90 Jahre ist das her. Als sich der Dirigent Enrique Mazzola jetzt auf die Ausgrabung des Werkes vorbereitete, fand er im Archiv der Deutschen Oper eine ziemlich zerfledderte Partitur, mit der ganz offensichtlich schon mehrere Generationen von Kapellmeistern gearbeitet hatten. Denn die 1849 in Paris uraufgeführte Grand Opéra über den radikalprotestantischen Wiedertäufer Johann von Leyden und sein kurzes Terrorregime 1535 in der Stadt Münster gehörte zu den Musiktheater-Blockbustern des 19. Jahrhunderts.

Das alte Notenmaterial aus dem Archiv ist allerdings völlig unbrauchbar, erzählt Mazzola: „Künneke war offensichtlich kein Fan von Posaunen, die hat er überall weggestrichen.“ Und auch sonst gab es jede Menge Veränderungen und Kürzungen, so dass die ursprüngliche Gestalt des Fünfakters allenfalls noch zu erahnen war. „Eingriffe, auch ganz radikale, waren damals absolut üblich“, erklärt der spanische Maestro, der beim Meyerbeer-Zyklus der Deutschen Oper bereits die Produktionen von „Dinorah“ und „Les Huguenots“ geleitet hat. „Jeder erstellte sich seine eigene Fassung, je nach Zeitgeschmack, den zur Verfügung stehenden Solisten sowie den technischen Möglichkeiten des Hauses.“

Und so wurde „Le Prophète“ erst in der Praxis verschlissen und dann vergessen. Als sich 1991 der Geburtstag des in Berlin aufgewachsenen und in Paris zu Weltruhm gelangten Meyerbeer zum 200. Mal jährte, wollten viele Theater seine Werke wiederbeleben. Und scheiterten zumeist an der beklagenswerten Materiallage. Darum klingelte bald beim Bayreuther Musikwissenschaftler Sieghart Döhring das Telefon. Am anderen Ende war der berühmte Ricordi-Verlag – mit dem Auftrag, doch bitte schnell spielbare Versionen der Grand Opéras herzustellen.

Sieben dicke Bände umfasst die Ausgabe, dann kommt der Praxistest

„Sie ahnten damals noch nicht, worauf sie sich da einließen“, sagt der inzwischen emeritierte Professor rückblickend. Erst 2010 kam die erste Lieferung der historisch-kritischen Meyerbeer-Edition auf den Markt, „Robert le diable“. Und dennoch lohnte sich die Investition für die Berliner Ricordi-Filiale. Denn die Zeit war reif für eine Meyerbeer-Renaissance. Zwar hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg vereinzelte Initiativen dazu gegeben – zum Kultstatus brachte es an der Deutschen Oper John Dews sehr freie „Hugenotten“-Fassung –, doch in der originalgetreuen Rekonstruktion durch die Wissenschaftler erschlossen sich die Werke noch einmal ganz neu.

Sieben dicke Bände umfasst allein die 2011 veröffentlichte, gut 3000 Euro teure „Prophète“-Ausgabe, vier davon enthalten die Dirigierpartitur, zwei den Klavierauszug für die Probenpianisten. Und der letzte Band versammelt das Wissen über alle Details zur Entstehung und Entwicklung des Werkes. „An der Pariser Oper war es zu Meyerbeers Zeiten üblich, dass ein neues Stück monatelang geprobt wurde und der Komponist in diesem Prozess aktiv beteiligt war, beständig an der Partitur weiterarbeitete“, berichtet Döhring. „Kurz vor der Premiere stellte man dann regelmäßig fest: Das Stück ist ja viel zu lang geworden. Also wurde radikal gekürzt.“ Während der Endphase der „Huguenots“ notiert Meyerbeer beispielsweise in seinem Tagebuch: „Heute 45 Minuten gute Musik gestrichen.“ Doch er fügte sich, wie auch seine Kollegen, den Zwängen des Theaterbetriebs. „Dazu gehört auch, dass die Vorstellung so rechtzeitig endete, dass die Besucher noch die letzten Vorortzüge erreichen konnten.“

Streichen? Fast gar nichts. Viereinhalb Stunden inklusive zweier Pausen wird der Abend

Im Fall der vier Meyerbeer-Hits – neben „Robert“, den Hugenotten und dem „Prophète“ gehört die heute als „Vasco da Gama“ bekannte „Afrikanerin“ dazu – ist die Quellenforschung recht einfach. Zumindest seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, denn die einst in Berlin verwahrten Handschriften wurden im Zweiten Weltkrieg nach Krakau ausgelagert. Zudem ist in Paris noch die Partitur vorhanden, aus der 1849 dirigiert wurde. Und es gibt zwei vom Komponisten abgesegnete Druckfassungen. Dennoch, so berichtet Sieghart Döhring, soll Meyerbeer einmal zu seinem Sekretär gesagt haben: „Es existiert ein Riesenunterschied zwischen der Oper, die ich im Kopf habe, und dem, was man auf der Bühne sehen kann.“

Dieser Idealvision des Komponisten versuchen sich die Herausgeber der historisch-kritischen Edition so gut wie möglich anzunähern, vor allem dadurch, dass sie jede Variante, jede nachträgliche Um- und Abänderung detailgenau dokumentieren. Anschließend aber müssen sie das wertvolle Wissen dann doch dem Praxistest aussetzen. Einem Bühnenalltag, in dem die beteiligten Akteure vor allem eine Fragen umtreibt: Wie begeistern wir unser Publikum für eine Oper, die fast keiner (mehr) kennt?

Natürlich hat Enrique Mazzola den langen einleitenden Aufsatz zur Edition des „Prophète“ ganz genau studiert. Aber dann musste er handeln, ganz pragmatisch, musste er festlegen, wie der Director’s Cut an der Deutschen Oper aussehen soll. Ob er viel Musik streichen möchte – fast gar nichts! –, ob die im 19. Jahrhundert obligatorische Balletteinlage aufgeführt werden soll – unbedingt! – und ob er seinen Protagonisten ihre mörderischen Partien in vollem Umfang zumuten kann – da müssen die durch! Viereinhalb Stunden inklusive zweier Pausen wird der Abend also dauern.

Ein Meyerbeer aus dem Geist Rossinis

„Ich fühle mich persönlich Meyerbeer sehr nah“, sagt der Maestro. „Denn er ist für mich der erste durch und durch europäische Komponist im modernen Sinn. Auch ich bin so ein kosmopolitischer Typ, ich komme aus Spanien, bin in Mailand ausgebildet worden, lebe in Paris, als Chefdirigent des Orchestre National de l’Ile de France, und trete weltweit auf.“ Und noch eines verbindet Mazzola mit dem Meister der Grand Opéra: Beide sind glühende Verehrer von Gioacchino Rossini. „Als Rossini nach Paris ging, folgte ihm Meyerbeer. Doch Rossini verstummte, als sich die Musikästhetik änderte. Die Romantik war eine Barriere, die er nicht überwinden konnte. Meyerbeer dagegen schritt voran, überführte das Erbe des Belcanto in die neue Zeit.“

Weshalb Enrique Mazzola den „Prophète“ jetzt an der Bismarckstraße auch aus dem Geist Rossinis dirigieren wird, stets mit einem klaren Metrum versehen, einem streng durchgehaltenen inneren Puls, egal, ob es sich um schnelle oder getragene Tempi handelt. Keinen pathetisch-auftrumpfenden Meyerbeer darf man da also erwarten, sondern einen leichten, rhythmisch pointierten. „Was die Instrumentierung angeht, kann ich mich voll auf Meyerbeer verlassen“, fügt der Dirigent hinzu. „Obwohl die Orchesterbesetzung groß ist, werden die Sänger selbst in den dramatischen Momenten nie vom Klang aus dem Graben zugedeckt. Er wusste halt, wie’s geht.“

Premiere am heutigen Sonntag, 17 Uhr, weitere Infos: www.deutscheoperberlin.de

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