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Wilhelm Furtwängler, Chefdirigent der Philharmoniker 1922–1934 und 1952–1954.

© IMAGO

Vor der Philharmoniker-Wahl: Glacéhandschuh und Meisterstab

Am 11. Mai wählen die Berliner Philharmoniker ihren neuen Künstlerischen Leiter. Ein Blick zurück auf die Orchestergeschichte im Zeichen der bisherigen Chefdirigenten.

Um zu einem konkurrenzfähigen Orchester zu wachsen und dabei finanziell überleben zu können, braucht es einen zugkräftigen Dirigenten. Diese Erkenntnis begleitet die Philharmoniker seit ihrer Gründung in der erwachenden Musikstadt Berlin, bei der sie zunächst erst einmal einen Chef loswerden wollen: Benjamin Bilse, ein ehemaliger Militärkapellmeister, zahlt den Musikern seines Orchesters bescheidene Gagen. Als es wieder vierter Klasse auf Tournee gehen und die Entlohnung für die kommende Saison noch gekürzt werden soll, unterschreiben 50 Musiker nicht mehr bei Bilse. Zum 1. Mai 1882 sind sie frei, was die heute weltberühmten Philharmoniker mit ihrem Europakonzert am Tag der Arbeit feiern.

Von nun an trägt die Gemeinschaft das finanzielle Risiko – und bewegt sich immer wieder am Rande des Abgrunds. Man spielt auch in Gartenlokalen, und der Ausschank während der Konzerte endet erst, als die Philharmoniker ihren ersten Chefdirigenten finden. Besser gesagt, es ist der Konzertveranstalter Hermann Wolff, der ihn aussucht. Wolff hat auch einen Raum für das von ihm protegierte Orchester ausfindig gemacht, die ehemalige Rollschuhbahn in der Bernburger Straße. Umgebaut erhält sie als erstes Gebäude weltweit den Namen „Philharmonie“.

Herbert von Karajan, Chefdirigent der Philharmoniker, 1956-1989.
Herbert von Karajan, Chefdirigent der Philharmoniker, 1956-1989.

© Unitel

Es ist der bedeutendste Dirigent seiner Zeit, der am 21.Oktober 1887 sein erstes Konzert als Chef der Philharmoniker leitet. Hans von Bülow kehrt zurück in die Stadt, unter deren „Spree-Mediocrität“ er während seines Studiums so gelitten hat, und stürzt sich wie besessen in die Arbeit. Was man als Orchestererzieher erreichen kann, weiß er von der Meininger Hofkapelle, die er aus einem Provinzorchester zu einem gefeierten Klangkörper geformt hat. Als die Meininger in Berlin gastieren, überschlagen sich die Kritiken. Bei ihrem Beethoven-Zyklus führen 200 Proben zu einem Ergebnis von nie gehörter Präzision und Eindringlichkeit.

Bülow ist der erste moderne Stardirigent, er schwingt den Stab so virtuos, wie Paganini geigt. Der Klavierschüler von Clara Schumann und Franz Liszt ist Wagner seit Jugendtagen ergeben, auch als seine Frau Cosima dem vergötterten Komponisten Kinder gebiert. Bülow leitet die Uraufführungen von „Tristan“ und „Meistersinger“, arbeitet in Meiningen mit Brahms zusammen – ein Probenfanatiker, der mit weißen Glacéhandschuhen dirigiert. Trotz seiner Schrullen wird er von den Musikern geschätzt, die er aus jeder Routine reißt. Die Philharmoniker, bislang eher als solide Truppe bekannt, werden zur Sensation, ihre Konzerte zur mitreißenden Neuerfindung der Musik.

Doch Hans von Bülow, der seit seiner Kindheit kränkelt, muss sich nach nur fünf Jahren vom Pult zurück ziehen, 1894 stirbt er in Kairo. In Erinnerung an den Dirigenten, der sie erstmals auf die musikalische Landkarte setzt, vergeben die Philharmoniker die Hans-von-Bülow-Medaille an ihnen besonders verbundene Musiker. Wieder sucht Impresario Hermann Wolff einen Dirigenten für das Orchester, das auch das seine geworden ist. Der junge Richard Strauss springt ein, vermag aber nicht genügend Publikum in die Abokonzerte zu locken. Auch liegen seine Gagenforderungen viel zu hoch.

Schließlich wird der gebürtige Ungar Arthur Nikisch engagiert, am 14. Oktober 1895 leitet der 40-Jährige sein erstes Konzert als Chef und konfrontiert die Philharmoniker erstmals mit Tschaikowskys 5. Symphonie. Der Komponist hatte Nikischs Dirigierstil einmal als „ruhig, sparsam mit überflüssigen Bewegungen, dabei aber außerordentlich gebieterisch, mächtig und voller Selbstbeherrschung“ beschrieben. Zu seinen Musikern pflegt Nikisch – anders als der herrische Bülow – ein beinahe kollegiales Verhältnis. „Es kann ohne Zögern behauptet werden, dass in einem erstklassigen Orchester ein jedes Mitglied die Bezeichnung Künstler verdient“, notiert Nikisch. Das wird nicht nur Grundlage für einen respektvollen Umgang, sondern auch für das solistische Selbstverständnis der Philharmoniker werden. Der Chef, zugleich Gewandhauskapellmeister, bleibt den Philharmonikern bis zu seinem unerwarteten Tod 1922 treu – 27 Jahre lang. In dieser Zeit führt er seine Musiker auch auf viele Reisen, die den Ruf des Orchesters mehren, etwa zur Zarenkrönung 1899 nach Moskau oder nach Paris.

Claudio Abbado, Chefdirigent der Philharmoniker 1990–2002.
Claudio Abbado, Chefdirigent der Philharmoniker 1990–2002.

© Cordula Groth

Während Bülow Werke intellektuell durchleuchtete, auf klassische Strenge und sein Stabvirtuosentum vertraute, öffnet Nikisch dem Orchester eine neue Ausdruckswelt. Intuition und Augenblick werden wichtiger als Probenexzesse, die Farben sinnlicher, der Klang weiter. Kein Wunder, dass sich Furtwängler auf seinen direkten Vorgänger berufen wird. Berlioz, Lizst, Strauss, Mahler und immer wieder Bruckner stehen auf Nikischs Programm, zu Schönberg, Strawinsky und Ravel hingegen findet er keinen Zugang. Unter Leitung ihres zweiten Chefdirigenten nehmen die Philharmoniker 1913 die erste komplette Tonaufnahme einer Sinfonie auf: Beethovens Fünfte.

Der gebürtige Berliner Wilhelm Furtwängler ist 36 Jahre alt, als er am 9. Oktober 1922 zum ersten Mal als Chef vor die Philharmoniker tritt. Auch er ist bis 1928 zugleich Gewandhauskapellmeister; Beethoven, Brahms und Bruckner werden seine Hausgötter. Furtwänglers Zeichengebung verlässt die bislang von einem Dirigenten erwarteten Bahnen, anstelle von klaren Einsätzen markiert er einen Bereich, in dem die Musiker selbst reagieren, den Takt erspüren müssen.

Die Philharmoniker werden zu seinem Instrument, in guten wie in schlechten Zeiten. Die notorisch klamme Orchesterrepublik lässt sich von den Nazis retten und firmiert nun als Reichsorchester. Furtwängler hofft zunächst, dass ihm dieser Schritt die umfassende Kontrolle über das Orchester sichert. Doch schon 1934 legt er sein Amt nieder, um nach Jahresfrist „sein“ Orchester ohne Titel wieder zu dirigieren. Nach dem Krieg hat Furtwängler Berufsverbot, ab 1947 gibt er wieder Konzerte mit den Philharmonikern, deren Chef er erst 1952 erneut wird. Er bleibt es zu seinem Tod 1954.

Simon Rattle, Chefdirigent der Philharmoniker 2002-2018.
Simon Rattle, Chefdirigent der Philharmoniker 2002-2018.

© Stephan Rabold

Das Orchester, inzwischen eine nachgeordnete Dienststelle des Senats, spricht sich am 13. Dezember 1954 für Herbert von Karajan als neuen Chefdirigenten aus. Die Musiker sehen in ihm „die künstlerische Persönlichkeit, die die Tradition des Berliner Philharmonischen Orchesters fortzusetzen vermag“. Sein bejubeltes Debüt feierte er bereits 1938, zum Missfallen Furtwänglers. Dessen subjektiven Ansatz und die objektive Linie eines Toscanini versucht Karajan zu einer Synthese zu führen – mit geschlossenen Augen im Konzertsaal, nach intensiven Proben. Der „Maestro des Wirtschaftswunders“ wie Adorno ihn nennt, strebt nach Perfektion und Klangschönheit. Unter Karajan werden die Philharmoniker dank unzähliger Tourneen, Ton- und Bildaufzeichnungen zu Global Playern.

1963 wird die Philharmonie bezogen, deren Bau Karajan energisch unterstützt. 1967 gründet der „Meister“ die Salzburger Osterfestspiele als Opernbühne der Philharmoniker, 1972 die Orchester-Akademie, um für hochklassigen Nachwuchs zu sorgen. 34 Jahre ist Karajan Chef in Berlin – und in dieser Zeit zum Synonym für „Dirigent“ geworden. „Immer wieder hat er mit ihnen an denselben Stücken gearbeitet und die gemeinsamen Interpretationen als einen Prozess begriffen, der sich über Jahre hinziehen konnte“, sagt Simon Rattle über seinen Vorgänger. „Aber genau dadurch erreichte er nicht nur eine Homogenität, die es so noch nie gegeben hatte, sondern er prägte auch die unverwechselbare Persönlichkeit des Orchesters aus. Davon profitieren wir bis heute, obwohl es mittlerweile nur noch wenige Philharmoniker gibt, die selbst unter Karajan gespielt haben.“ Im Alter entfremdet sich Karajan von seinem Orchester, im April 1989 legt er sein Amt nieder, drei Monate später stirbt er.

Die Philharmoniker stehen vor ihrer ersten wirklich demokratischen Wahl. Sie verläuft anders als erwartet. Auf der Top-Ten-Liste, die das Orchester diskutieren will, steht der Name Claudio Abbado gar nicht. Zunächst spricht man über Kleiber, Barenboim und auch ein erstes Mal über Rattle. „Ich bin Claudio für alle“, so führt sich Abbado nach dem Mauerfall als Chef den Musikern ein. Es folgen zwölf gemeinsame Jahre, in denen das Orchester einen Generationswechsel durchlebt.

Mit seinen Saisonthemen macht Abbado die Philharmonie zu einem Fixpunkt im intellektuellen Leben der Stadt, sein kammermusikalisches Klangideal bricht Erstarrungen der Karajan-Spätphase nach und nach auf. Mitunter zähe Probenphasen verzeihen ihm die Musiker, weil Abbado die Fähigkeit besitzt, Abende plötzlich leuchten zu lassen. Die Konzerte, die er nach seinem Abgang als Chef 2002 jeden Mai in der Philharmonie gibt, gewinnen Kultstatus.

„Berlin: Das ist ein großes Tier, manchmal zu groß und zu mächtig, aber absolut außergewöhnlich“, beschreibt Simon Rattle das Orchester, das den Briten zu seinem neuen Chef wählt. In 58 Konzerten hatte man sich zuvor schätzen gelernt, obwohl Rattle nicht nur positiv über die Musiker spricht. Sie müssten ihr Repertoire erweitern und mehr proben, um ihrer Rolle als Fixstern unter den Orchestern gerecht zu werden. Viel Kraft hat ihn das gekostet.

2018 gibt er nach 16 Jahren den Stab weiter. An wen? Die Kandidaten stellen wir ab morgen in einer Serie vor.

Der Frühphase der Philharmoniker widmet sich die Ausstellung „Musik! Die Entstehung eines Weltorchesters“ bis 30. August im Museum LA 8 Baden-Baden. Der Katalog ist im Athena Verlag erschienen.

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