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Schwere Last. Für sein Buch „Probeliegen. Geschichten vom Tod“ (Scherz Verlag) hat Torsten Körner Särge getragen.

© JOKER

Vorabdruck: Selbstversuch als Sargträger: Das Fußende ist leichter

Locker absenken. Den Rücken gerade! Und stumm abgehen. Unser Autor hat für sein Buch "Probeliegen" Geschichten über den Tod gesammelt - und dabei auch in einem Berliner Bestattungsunternehmen gearbeitet. Wir drucken ein Kapitel vorab.

Heute hatte ich das erste Mal einen Toten gesehen.

Der Tag fing hektisch an. Man musste mindestens eine Viertelstunde vor Dienstbeginn auf dem Hof sein, damit man sich in Ruhe einkleiden konnte. Und da für mich noch ein Anzug ausgesucht werden musste, war ich spät dran. Ich bekam einen schwarzen Anzug, der etwas breit an den Schultern und etwas kurz an den Beinen war, aber ansonsten fabelhaft passte. Über mein kurzärmliges weißes Hemd wurde eine schwarze Weste gestreift. Der Kollege, der mich einkleidete, band mir die schwarze Krawatte. Es war ein ungewöhnlich warmer Herbsttag.

Dann ging es hinaus. Wir waren sechs Mann auf dem Wagen. Zunächst stand nur eine Sargfeier auf dem Programm, ob wir noch andere Termine bekommen würden, würde sich erst im Laufe des Tages zeigen. Wir mussten nach Pankow, einem Stadtteil im Osten. Der Verkehr war dicht, der Fahrer gab Gas. Jetzt bloß nicht in einen Stau geraten! Ich fühlte mich verantwortlich für den Zeitdruck. Der Tote, ein alter Mann, war schon an Bord. Er wurde von uns zum Friedhof gefahren, dort sollten wir den Sarg ausladen, ihn in die Kapelle tragen, die Angehörigen sollten sich verabschieden, wir den Sarg wieder einladen und dann den Toten zurück zum Hof fahren, wo er dann in der Kühlkammer auf seine Fahrt zum Krematorium warten müsste.

Im Laufe der nächsten Woche lernte ich, dass jeder Tote viele Fahrten hinter sich bringt, ehe er die letzte Ruhe findet. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir unsere Ruhe haben, nur weil wir tot sind.

Unsere Mannschaft bestand aus einem Festangestellten und vier Aushilfen. Und mir. Einer von ihnen war ein Ingenieur, der demnächst eine neue Stelle in seinem erlernten Beruf antreten würde. Er war als Sargträger der Langzeitarbeitslosigkeit entflohen.

Ein großes, ein ständiges Thema für die Sargträger war das Tragen des Sarges. Kopf- und Fußtragen waren feste Wendungen. Wer den Kopf trug, trug am Kopfende, dort, wo es schwerer war, wer Fuß trug, trug das Fußende, hier ging es leichter, deshalb war es begehrter. »Die, die in der Mitte tragen, tragen praktisch nichts«, sagten sie, aber das stimmte nicht, ich habe in der Mitte getragen, und »nichts« fühlte sich anders an.

Wir erreichten den Friedhof trotz aller Hindernisse pünktlich, trugen den Sarg in die Kapelle und warteten auf die Angehörigen. Ich wurde eingewiesen. »Nimm den Angehörigen die Blumen und Kränze ab, sofern sie es wünschen! Hast du dein Handy ausgeschaltet? Feg noch einmal die Ladefläche des Wagens sauber! Schau immer auf den Vordermann und mach es ihm nach! Kehre den Angehörigen nicht den Rücken zu, wenn du die Blumen aufhebst! Stell dich dort hin, an den Fuß der Treppe, und warte, bis alle in der Kapelle sind!«

Während der Trauerfeier blieben wir draußen. Die Männer schrieben SMS oder spielten sich per Bluetooth lustige Filme auf ihre Handys. Und sie rauchten. Alle.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was nach der Trauerfeier passiert...

Nachdem die Trauerfeier beendet war, nahmen wir den Sarg auf ein Kommando hoch, trugen ihn hinaus und schoben ihn wieder in den Wagen, den wir unmittelbar vor der Kapelle geparkt hatten. Ich war, zusammen mit einem anderen Kollegen, eingeteilt, die Blumen zum Grab zu tragen. Da die Angehörigen des Toten nicht darauf warten sollten, bis wir Blumenträger vom Grab zurückgekehrt waren, weil sie sehen wollten, wie der Tote davonfuhr, ehe sie selbst davonfuhren, mussten wir quer über den Friedhof laufen, um zu einem hinteren Ausgang zu gelangen, wo der Wagen dann auf uns wartete. So war es verabredet. Es wurde immer wärmer, die Gebinde und Sträuße waren schwer, das weiße Hemd unter dem schwarzen Anzug war nass.

Der Blumenträger an meiner Seite war jünger als ich. Vielleicht Mitte zwanzig. Während wir über den weitläufigen Friedhof gingen, erzählte er aus seinem Leben. Hinter ihm lag eine lange Drogenkarriere. Nein, keine harten Sachen, aber er hatte exzessiv gekifft, auch ab und zu Kokain. Nach einer Überdosis hatte er eine Therapie begonnen und kämpfte sich ins Leben zurück. Er litt an ADS, dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, und seitdem er das wusste und seine Krankheit medikamentös behandelt wurde, ging es ihm besser – sagte er. Er hatte ein Studium abgebrochen, wollte es aber wieder beginnen. Sein Therapeut hatte ihm geraten, seine Geschichte aufzuschreiben. Jetzt sollte es ein Buch werden, es sollte »Der Sargträger« heißen, und darin sollte alles Platz finden, was er erlebt hatte. Er rang um Worte, es sprudelte aus ihm heraus, manches Mal ließ er einen Satz unvollendet in der Luft hängen, dann begann er einen neuen Gedanken und ließ diesen ebenfalls unvollendet. Seine Arme wirbelten herum, als könnte er die Worte, die ihm manchmal fehlten, wie Äpfel pflücken. Er mochte nicht, was er tat, aber der Job als Sargträger gab ihm die Freiheit, sich neu zu orientieren, ohne dass ihm bei der Arbeit jemand ständig auf den Füßen stand. Einigen Kollegen, sagte er, fehle es an Respekt vor den Toten.

Während wir sprachen, suchten wir den Ausgang, aber je länger wir suchten, desto deutlicher wurde uns, dass wir uns verlaufen hatten. Unser Wagen war längst weg, und weit und breit war niemand zu sehen, den wir fragen konnten. Wir gingen noch einmal zurück zum Hauptausgang, aber dort standen noch die Angehörigen und unterhielten sich. Wir traten den Rückzug an, stießen in eine andere Richtung vor und fanden endlich ein Häuschen, wo offensichtlich die Friedhofsverwaltung untergebracht war. Dort zeigte sich auch ein Tor, von dem aus man zur Straße gelangte. Aber das Haus war leer, und das Tor war verschlossen. Wir untersuchten es mehrfach, so als könnten wir nicht glauben, was uns passiert. »Das gibt’s doch gar nicht!« Wir rüttelten daran. Eine alte Frau kam uns entgegen. »Ist dort ein Ausgang? « Sie hatte die Frage nicht verstanden – oder? Sie ging unbeeindruckt weiter und verschwand hinter einer dichten Zypressenhecke. Ich schlug vor, über einen der grüngestrichenen, brusthohen Zäune zu klettern, aber was half uns das, den ausgemachten Treffpunkt hätten wir dann immer noch nicht erreicht. Es war eine Odyssee. »So was Blödes!« Mein Kollege ließ sich auf meinen fahrlässigen Vorschlag nicht ein, Sargträger im schwarzen Anzug hätten schließlich ihre Würde zu verteidigen und kletterten nicht einfach über einen Zaun. Endlich fanden wir ein kleines Seitentor, das der richtige Ausgang hätte sein können. Jetzt waren wir immerhin schon mal draußen, aber der Wagen blieb verschwunden. Und da der Kollege die Telefonnummern der anderen nicht hatte, konnten wir auch niemanden anrufen. Da tauchte der schwarze Wagen in der Ferne doch noch auf. Wir winkten, als ob wir zwei Schiffbrüchige wären, die auf einer einsamen Insel am Horizont ein Schiff vorbeisegeln sehen. Der Spott der anderen hielt sich in Grenzen. Wir machten einen recht abgekämpften Eindruck. Es war still im Wagen, und wir fuhren über die Stadtautobahn zurück.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, wie es sich anfühlt, zum ersten Mal einen Toten zu sehen

Als wir zurück auf dem Hof waren, sah ich das erste Mal einen Toten. Einer der Träger öffnete im Keller unvermittelt einen Sarg, um sich den Toten anzusehen. Ein alter Mann. Würdevoll lag er da, im Anzug, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Er sah irgendwie unecht aus. Eine Wachspuppe, dachte ich. Er hatte eine eigene Aura, ich konnte es schwer in Worte fassen. Die Toten strahlten offenbar ein besonderes Licht aus; dieser hier war so starr, so stumm und so sehr auf sich selbst bezogen, als wüsste er, dass er, so wie er dalag, ein ganzes Leben bezeugen müsste. Er sah aus, als wüsste er unendlich viel mehr als wir, und erinnerte mich an einen strengen Lehrer, der unter den geschlossenen Lidern noch einen scharfen Blick auf uns wirft. Dieser da, dachte ich, braucht nicht einmal mehr Augen, um uns zu sehen. Er sah aus wie eine Erzählung, wie ein großes, felsenfestes Wort, und ich merke, während ich das aufschreibe, dass der Tote über mich lacht, weil ich seiner Erzählung nicht gewachsen bin.

Hinter dem ersten Kühlraum, dem Vorkühlraum, lag der eigentliche Kühlraum, hier war es noch einige Grade kälter; hier wurden die Toten aufgebahrt, wenn sie längere Zeit auf ihre Beerdigung oder Einäscherung warten mussten. Einer der Träger sagte zu mir: »Jetzt keinen Schreck bekommen, der Herr Schmitz richtet gerade eine Leiche her!« Herr Schmitz war einer der wenigen Bestatter, die ihre Toten noch selbst einbetteten. Er hatte einige Kurse absolviert, um thanatopraktische Kenntnisse zu erwerben. Der Begriff »Thanatopraxie« kommt aus dem Altgriechischen. »Thanatos « ist in der griechischen Mythologie der Gott des Todes, und die »Praxia« bezeichnet das Handwerk an sich. Unter Thanatopraxie versteht man demnach alle Tätigkeiten, die dazu dienen, die Leiche hygienisch und ästhetisch so zu behandeln, dass sich die Angehörigen würdevoll von ihren Toten verabschieden können – sofern sie den Leichnam noch einmal sehen wollen. Gerade schwer entstellte Tote, die Opfer eines Unfalls oder einer Gewalttat wurden, müssen umfassend kosmetisch behandelt und rekonstruiert werden. Zu den wichtigen Aufgaben eines Thanatopraktikers gehören ebenfalls konservierende Maßnahmen, um die Verwesungsvorgänge zu verzögern oder aufzuhalten.

Die Frau, die Herr Schmitz unter den Händen hatte, war eine ältere Frau. Sie war nackt und sah aus, als ob ihr ganzer Körper verbrüht worden wäre. Rot, fast überall rot. Ihr Kopf war nach hinten verdreht, die Lider geschlossen. Ihr Mund wirkte eingefallen, so als ob sie kein Gebiss mehr trüge. Vom Kehlkopf abwärts zog sich eine wulstige, zopfartige Narbe fast bis zur Scham. Die alleinstehende Frau war tot in ihrer Wohnung gefunden worden, und weil die Todesursache unklar war, hatte der Staatsanwalt eine Obduktion angeordnet. Ich war über diesen Anblick nicht schockiert, er machte mir keine Angst, aber ich spürte, wie sich die Eindrücke fest in meinem Kopf verknoteten, verdickten, sich unumstößlich einlagerten. Auch diese Leiche zeigte eine besondere Plastizität, sie stach mir in die Augen, als gehörte ihr noch eine Dimension mehr, die ich nur ahnen, aber nicht wirklich wahrnehmen konnte. Aber auch sie erweckte den Eindruck von Künstlichkeit, sie wirkte wie ein Film in meinem Leben, und für Momente begann sich mein eigenes Leben wie ein Film anzufühlen, so als ob die Toten die Realität außer Kraft setzen könnten. Ich ging an diesem Tag beschwingt nach Hause, pfeifend, ich freute mich, noch am Leben zu sein und mich bewegen zu können. Ich hatte mir die Hände gewaschen und den schwarzen Anzug in meinen Spind gehängt. Ich freute mich an dem Blau meiner Jeans; das weiße kurzärmelige Hemd, das ich trug, war jetzt wieder getrocknet.

Der zweite Tag würde mich beschwerter entlassen, der Tod forderte sein Recht und drückte mich zu Boden. Die Toten warfen ihr Licht auf die Lebenden, und ich bildete mir ein, hinter jedem Gesicht, das mir in den Straßen begegnete, die Totenmaske zu sehen.

Wir fuhren zu einem Friedhof in Weißensee, wo wir eine Senke machen sollten. Der Mann, den es zu senken galt, war sechsundachtzig Jahre alt geworden. Ich musste in diesem Augenblick an die durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes denken und das Verdikt meines neuen Hausarztes: »Dann ist irgendwann der Ofen aus!« Der Sarg war in einem Geräteschuppen zwischen verschiedenen Rasenmähern, Harken und Schaufeln abgestellt. Wir fuhren ihn auf einem Wagen zur Kapelle, trugen ihn hinein und warteten auf die Angehörigen. Es war eine kleine Trauergemeinde, vielleicht fünfzehn bis zwanzig Gäste, aber es war immerhin eine Trauergemeinde. In Großstädten wie Berlin finden viele Begräbnisse ohne jeden Gast, ohne Angehörige, Freunde oder Bekannte statt. Ich hatte den Sarg beim Tragen als sehr schwer empfunden und fragte mich, ob wir es schaffen würden, ihn ohne Probleme zu senken. Zwei der Träger waren erkennbar über sechzig, ich traute weder ihren noch meinen Körperkräften. Doch als ich mit einem der Alten ins Gespräch kam, änderte ich meine Meinung. Der Mann sah aus wie der alte Hindenburg, dichtes weißes Haar, ein Bürstenhaarschnitt. Genauso dicht und struppig vital war der schlohweiße Schnauzbart. Der Mann war starker Raucher und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Er war schon zweiundsiebzig Jahre alt und arbeitete immer noch als Sargträger. Ja, in den fünfziger Jahren habe er im Ruhrgebiet im Bergbau gearbeitet, als dann die ersten Zechen schlossen, kehrte er nach Berlin zurück und arbeitete als Kohlenträger. Fünfunddreißig Jahre habe er Kohlen geschleppt. Jeder weiß, wie zäh und stark Kohlenträger sind, was sie jeden Tag schleppen, und mein Misstrauen in seine Körperkräfte war augenblicklich verschwunden. Die Kohlenträgerzeit sei eine gute Zeit für ihn gewesen. Es gab gute Trinkgelder, manchen Schnaps und manches Frühstück. Wenn er genug Geld verdient hatte, ließ er die Kohlen Kohlen sein, packte den Wohnwagen voll und fuhr mit seiner Frau durch ganz Europa. Sogar bis nach Marokko seien sie gekommen. Und erst, wenn der letzte Pfennig ausgegeben worden war, ging es zurück nach Berlin.

Nachdem die Trauerfeier vorbei war, nahmen wir den Sarg auf, trugen ihn hinaus und fuhren ihn auf einem Rollwagen zum Grab. Mir war vorher genau erklärt worden, was ich zu machen hätte. In der Mitte gehen, vorsichtig auf das Stahlblech treten, das das Grab einfasst, mein Seilende hochnehmen, den Balken beiseiteschieben, den Sarg ein wenig austarieren, aber eigentlich nur locker absenken, schließlich zur Seite treten und nach hinten abgehen. Auf keinen Fall dabei an den Angehörigen vorbeimarschieren. Ich kam mir wie ein Schauspieler vor, der auf dem Theater eine stumme, aber ungemein wichtige Rolle auszuführen hat. Die Enge der Grabstätte machte diese Senke ein bisschen kompliziert. Es soll schon Sargträger gegeben haben, die ins Grab stürzten oder den Sarg unkontrolliert hinabfallen ließen, aber ich hielt diese Geschichten für Schauermärchen. Wir nahmen unsere Stellung ein, hoben das Seilende hoch und den Sarg an und stießen die Balken, auf denen der Sarg über dem offenen Grab gelegen hatte, mit dem Fuß beiseite. Jetzt lief mir das Seil langsam durch die Hände, der Sarg senkte sich, und ich verfolgte ihn mit meinem Blick, mit meinem ganzen Kopf und meinem Oberkörper. Mein Nebenmann zischte etwas wie »Rücken« und »gerade«, aber ich konnte die Wörter in keinen Zusammenhang bringen und beugte mich weiter vor. Ich muss wie eine vertrocknete Primel ausgesehen haben, die traurig den Kopf hängenlässt.

Auf der nächsten Seite: der Sargträger-Musterschüler

Ich blickte sehr konzentriert auf den Sarg, bemühte mich, vollends ernsthaft und würdig auszusehen. Ich wollte ein Sargträger-Musterschüler sein und nahm an, eine tiefe Verbeugung wäre am offenen Grab genau die richtige und angemessene Körperhaltung, um meine Anteilnahme und meine Professionalität zum Ausdruck zu bringen. Für einen kurzen Augenblick erfasste mich ein leichter Schwindel, weil ich mir einbildete, die Blicke der Trauergemeinde würden sich auf meinem Rücken zu einem Gewicht verdichten, das mich selbst nach unten drückte, und ich hörte schon, wie man mich mit Schimpf und Schande davonjagte, weil ich kopfüber auf den Sarg gestürzt war, aber schließlich riss mich ein dumpfes Geräusch aus solchen Träumereien. Der Sarg hatte den Boden erreicht, ich ließ das Seil los und ging ab. Hinterher sagte man mir, dass man beim Senken gerade stehenbleiben müsse, die Träger sollten eine aufrechte Phalanx bilden, dazu müsse man den Rücken durchdrücken, und man dürfe keinesfalls, so wie ich es getan hatte, mit dem Oberkörper nach vorne sinken.

Nach der Senke fuhren wir zurück auf den Hof. Es waren zwei Einbettungen vorzunehmen, bei denen auch ich, sofern ich es mir zutraute, hier und da Hand anlegen konnte. Die Toten lagen im Keller in einer Art Wandregal. Dort wurden sie herausgezogen, die meisten waren in weiße Plastikfolien eingeschlagen. Dann hob man sie in den Sarg, kleidete sie an, schloss ihnen die Augen, den Mund, kämmte ihnen die Haare, faltete ihnen die Hände und legte zuletzt eine Decke bis auf Brusthöhe über sie. Obwohl die Sargträger nicht besonders grob mit den Leichen umgingen, sah es doch so aus. Alles geschah schnell, ohne Innehalten, ohne jede erkennbare Beziehung zwischen dem Toten und dem Sargträger. Sie waren und blieben einander fremd. Die Sargträger verrichteten ihr Handwerk an den Toten, und die Toten schwiegen. Sie sagten nicht: »Jetzt aber mal Vorsicht, junger Mann!« oder »Dieses Hemd mag ich aber gar nicht, wer hat das denn ausgesucht?« oder »Können Sie mir bitte das Kissen ein wenig zurechtrücken?« Nein, nichts von alledem, sie schwiegen unerbittlich, und auch die Sargträger hatten ihnen nichts zu sagen. Die erste Tote, die eingebettet wurde, war eine achtundneunzigjährige Frau, nur noch Haut und Knochen. Ich musste unwillkürlich an die Leichen in den Konzentrationslagern denken, die ich so oft im Fernsehen gesehen hatte. Genauso sah diese alte Frau aus. Ihr Gesicht war so eingefallen, dass man nur noch den nackten Schädel zu sehen glaubte. Gegen diesen Körper stach der Teddy, den ihr jemand mitgegeben hatte und der ihr nun in den Sarg folgte, merkwürdig plüschig ab. Nach dieser alten Frau wurde eine deutlich jüngere Frau eingebettet. Sie war zweiundsechzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich jünger. Auf den Zetteln an den Zehen der Toten und den Karten, die am Sarg befestigt wurden, wurde grundsätzlich keine Todesursache vermerkt, deshalb fragte ich mich, woran diese Frau wohl gestorben war. Ihre Haut war gelblich, ansonsten zeigte sie aber keine auffallenden Krankheitsspuren. Die Augen waren halb geöffnet, ihr Mund stand ein wenig offen. Auf dem Unterarm klebte ein briefmarkengroßes Foto, das vermutlich ihre beiden Enkelkinder zeigte. Auch dieser Frau wurde ein Teddy mit in den Sarg gelegt. Einer der Sargträger vernähte ihr mit einer großen Nadel den Mund, was ich als äußerst unangenehmen Anblick empfand. Ich musste mir innerlich vorsagen, dass die Tote die Stiche nicht spürte. Sie sah nach dem Vernähen des Mundes völlig anders aus. Obwohl ich sie nicht kannte, sagte ich unwillkürlich zu ihr: »So hast du nie ausgesehen, das bist du nicht.«

Nach den Einbettungen mussten wir vier Tote ins Krematorium nach Ruhleben überführen, ins »Krema«, wie wir sagten. Mir kam es vor, als ob wir Schuhkartons transportierten. Der Transport an sich, das Reinschieben, Rausholen, Herumfahren, Absetzen etc. machte die Särge zu Kisten, deren Inhalt uns gleichgültig ließ. Die Zufahrt zum Krematorium erinnerte an eine Bunkeranlage, das Krematorium selbst war versteckt, von außen kaum einsehbar. Zwischen uns und den Angestellten vor Ort wurden nicht viele Worte gewechselt, man kannte sich, schob einander die Särge zu, hob noch mal den Deckel, und dann bis zum nächsten Mal!

Anschließend, wir waren ausnahmsweise gut in der Zeit, gönnten wir uns eine kleine Stärkung an einer der trostlosesten Imbissbuden, die ich jemals erlebt hatte. Die windschiefe Bude befand sich mitten im Industriegebiet, das Publikum setzte sich aus Lkw-Fahrern, Handwerkern und uns zusammen. Der Mann hinter dem Tresen versuchte, mich übers Ohr zu hauen. Er maulte ein bisschen, entschuldigte sich jedoch nicht, rückte das Geld aber anstandslos heraus. Drei schwarze Männer kauten schweigend Currywurst und Pommes. Die Würste sahen aus wie verbrannte Finger. Links von uns befand sich ein Busfriedhof, auf dem eine Reihe von alten Reise- und Linienbussen vor sich hin rottete, zerschlagene Fensterscheiben, zerfledderte Sitze, aufgerissene Dächer, verrostete Verkehrsschilder. Über diese automobile Ruhestätte spannte sich eine Brücke, die irgendwann aufgegeben oder gar nicht erst zu Ende gebaut worden war. Mein Blick fiel auf die Straße vor uns, dort donnerte gerade ein mit Sand beladener Tieflaster vorbei. Die Straße, an der wir standen, hieß tatsächlich »Freiheit«.

Auf der nächsten Seite: die Polizeiabholung

Es war jetzt schon spät am Nachmittag, aber der Tag war noch nicht zu Ende. Eine Polizeiabholung stand noch an. So nannte man Einsätze, bei denen der Tote von der Polizei beschlagnahmt wurde, weil die Todesursache ungewiss war, ein Gewaltdelikt vorlag oder weil kein Hausarzt des Toten erreicht werden konnte. Wenn der Bestatter losfährt, weiß er nicht, was ihn erwartet. Es kann sich um einen Selbstmörder handeln, es kann ein Toter sein, der seit Wochen in seiner Wohnung gelegen hat, es kann aber auch jemand sein, der im Kreise seiner Familie zu Hause verstorben ist. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Wir fuhren nach Steglitz, einer ruhigen und bürgerlichen Wohngegend. Die Tür des Hauses, das uns angegeben worden war, stand schon offen; man erwartete uns. Wir stiegen in den dritten Stock. Klopften. Eine Frau öffnete die Tür, neben ihr stand eine weitere Frau, die in ihr Taschentuch weinte. Die Frauen waren offenbar die Tochter und die Ehefrau des Toten. Sie führten uns in das Sterbezimmer. Dort lag ein alter Mann. Neben ihm auf dem Nachttischchen lagen seine Medikamente. Er war erst vor wenigen Stunden gestorben. Er sah irgendwie beleidigt aus.

Der Chef unseres Teams fragte die Angehörigen, ob sie sich noch einmal verabschieden wollten? »Nein, davon kommt er auch nicht zurück.« Nur die Tochter strich ihrem Vater noch einmal über die Wange und sagte: »Nun schlafe tief!«, dann verließ sie das Zimmer, und wir waren mit dem Toten allein. Es war ein schwerer, beleibter Mann. Wir zogen uns dünne Latexhandschuhe an, schlugen die Bettdecke zurück. Es roch. Wenn wir sterben, kommt es manchmal zu einem unwillkürlichen Kotabgang, weil die Muskeln erschlaffen, unser letzter Stuhlgang. Der Reißverschluss der Trageliege, die wir mitgebracht hatten, wurde aufgezogen. Der Tote trug keine Unterhose, er war unten nackt, und der Anblick des kleinen, reglosen Glieds trieb mir fast Tränen in die Augen. Als wir den Toten vom Bett auf die Bahre hievten, wackelte sein Bauch hin und her, fast konnte man meinen, er lebte. Dann schnallten wir ihn fest und trugen ihn hinaus. Die Wohnung war klein, enge Flure, ebenso das Treppenhaus, ein Neubau. Schon um den Toten aus der Wohnung zu bekommen, mussten die beiden Träger die Trage ankippen, da der Mann sonst nicht durch die Haustüre passte. Die Frau schluchzte noch einmal heftig und überlegte, ob sie den Toten bis nach unten begleiten sollte, aber unser Wortführer riet ab. Er wusste, dass das Tragen durch das Treppenhaus kein leichtes Manöver werden würde und keinen erbaulichen Anblick bot. Schon an der ersten Biege entglitt uns die Bahre um ein Haar, einer der Träger – man trägt immer zu zweit – musste kurz absetzen, verdrehte sich empfindlich die Hand. Ich versuchte mitzuhelfen, nun trugen wir zu zweit am Kopf, aber ich hatte das Gefühl, nur zu stören. Hatte ich jemals etwas Schwereres getragen? Ich ging in die Knie, konnte das Gewicht kaum halten, mit letzter Kraft schoben wir den Toten in den Wagen. Oben stand seine Frau am Fenster und sah herunter. Wir schauten nicht zurück.

Dieser Einsatz war bisher am bedrückendsten für mich. Die Plötzlichkeit, mit der wir in dieses fremde Leben eindringen mussten, überwältigte mich, alles war unserem Blick ausgeliefert, und wir kamen wie Komplizen des Todes daher, denn schließlich waren wir es, die den noch warmen Toten aus seiner Welt abtransportierten. Selbst wenn der Mann schon lange krank gewesen sein mochte, sein Verschwinden aus der Welt, der Übergang von seiner Wohnung in unseren Keller, den er nie zuvor gesehen, den er sich nie hatte träumen lassen und der ihm gegenüber vollkommen gleichgültig war, hatte etwas Erschreckendes. Ein scharfer Schnitt. Alles, was uns gerade noch umgab, muss von einer Sekunde zur anderen ohne uns auskommen und verändert seinen Charakter. Stirbt ein Mensch, ordnet sich das Leben, das ihn umfängt, neu, Familien nehmen eine andere Aufstellung, Gefühle wechseln die Temperatur, die Wohnungen verändern ihr Aussehen, die Dinge, die dem Verschwundenen gehören, landen auf dem Müll, in unserer Erinnerung oder sie werden zum Eigentum eines anderen. Etwas verändert sich, aber es besteht kein Zweifel, dass alles auch ohne uns auskommt, dass die Welt die Lücke, die wir hinterlassen, so perfekt schließt, dass es uns schon zu Lebzeiten vorkommen muss, als könnten wir gar keine Lücke reißen, als gäbe es uns nicht.

Als wir über die Stadtautobahn zum Hof zurückfuhren, musste ich noch einmal an das Gesicht des Toten denken. Die Toten sehen einsam aus, aber auch unendlich »vielsam«, denn sie sind Teil einer Totenwelt, die so viel größer ist als die unsere. Wie viele Menschen sind gestorben, seit es Menschen gibt? Können wir es uns leisten, mitleidig auf die Toten herabzusehen? Ist es nicht umgekehrt? Schauen sie nicht mitleidig auf uns? »Was seid ihr bloß für arme Geschöpfe«, mögen sie denken, »ihr wisst gar nichts. Haltet euch fest an dem bisschen Herzschlag, dem bisschen Atem, dem bisschen Blut und glaubt, das sei alles.« Jeder sein kleines Privatuniversum, jeder sein All und Alles. Aber den Tod lässt das kalt. Wir lassen ihn kalt.

Auf der nächsten Seite: ein neuer Pullover! Eine neue Haut!

Mein dritter Tag ist nur noch in Bruchstücken zu haben. Ich war am Abend zu müde, um mich gleich an den Computer zu setzen und das Erlebte aufzuschreiben. Es war auf jeden Fall ein sehr warmer Tag, schon frühmorgens stand dicke Luft in den Straßen. Ich erinnere mich kaum noch an die Mitfahrer, da man jeden Tag in anderer Zusammenstellung hinausfuhr. Ein junger Mann war dabei, ein spillriges Kerlchen mit hervortretenden Augen, ein Kindergesicht, das zugleich uralt aussah, auf seiner trockenen Unterlippe klaffte ein tiefer Riss, die wenigen Haare standen kurz und stoppelig vom Kopf ab. Jetzt, einige Tage vor dem Monatsende, hatte er keinen Cent mehr in der Tasche. Ich bot an, ihm eine Bratwurst und Pommes zu kaufen, das lehnte er ab. Er trank nur eine Cola. Wir fuhren hinaus aus der Stadt, irgendwo ins Umland nach Brandenburg, wo wir eine Senke machen mussten. Der Sarg stand bereits in der Kapelle, wir fuhren also die fünfzig Kilometer nur, um den Sarg aus der Kirche zu tragen und ihn zu senken. Alles andere hatte der Bestatter vor Ort bereits erledigt. Diese Tour werde ich vor allem deshalb nicht vergessen, weil wir uns hoffnungslos verfuhren. Dabei hatte jeder Wagen ein Navigationsgerät an Bord. Aber der Fahrer hatte offenbar ein falsches Ziel eingegeben, und so fuhren wir kilometerweit durch einen Fichtenwald. Die Schlaglöcher wurden immer tiefer, und ich fürchtete einen Achsenbruch, wir wurden bei jedem Knall in unsere Sitze gedrückt, und es klang, als ob jemand mit einem schweren Hammer auf den Wagen einschlagen würde.

Am nächsten Tag hatte ich frei. Ich hatte das Bedürfnis, mir etwas zum Anziehen zu kaufen. Vielleicht einen Pullover? Etwas ganz Frisches, Neues überstreifen! Mir eine neue Haut geben, etwas Unverbrauchtes auf den Leib. Ich kaufte mir einen Kapuzenpullover, und in den nächsten Wochen kaufte ich mir noch drei weitere. Noch nie in meinem Leben hatte ich derartig viele Kapuzenpullover gekauft und auch noch getragen. Ich entdeckte in meinem Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr Männer jenseits der vierzig, die solche Pullis trugen. Was mochte es mit dieser rasanten Kapuzenpullover-Vermehrung auf sich haben? Machten die alle Praktika in Bestattungsunternehmen? Suchten sie in diesem Kleidungsstück die frische Beweglichkeit früherer Tage? Einer erzählte mir, die Kapuze würde ihn frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit tröstend bergen. Ein anderer schätzte die Lässigkeit dieses Kleidungsstücks und meinte, die Kapuzenjacke würde das Drinnen zum Draußen machen und das Draußen zum Drinnen, oder anders gesagt, dieses Kleidungsstück sei sehr kompatibel und – auch in seinen Arbeitswelten – akzeptiert (er war Designer). Zwei gaben zu, erst im fortgeschrittenen Alter zu dieser Art von Pullover gefunden zu haben, und die Vermutung, der Pullover befriedige ihre Sehnsucht nach Jugendlichkeit, sei möglicherweise nicht ganz falsch. Allerdings, fügte einer der beiden hinzu, erinnere ihn der Kapuzenpullover auch immer an Mönche oder Sportler, und beides wäre er in seinem Leben gerne einmal gewesen. Mit diesem Pullover könne er seinem Hang nach Askese und Sportlichkeit nachgeben, Teilzeit-Mönch, Teilzeit-Sportler. Sicher gibt es einen tiefen Zusammenhang zwischen Mode und Sterblichkeit. Ist Mode nicht der Versuch, die Schönheit über die Vergänglichkeit triumphieren zu lassen? Und ist nicht die Mode selbst äußerst kurzlebig und vergänglich?

Mein letzter Tag als Sargträger begann. Jetzt war ich schon geübt. Bewegte mich zielstrebig auf dem Hof, stieg ohne zu zögern die Stahltreppe hoch, murmelte den anderen Aushilfen ein flüchtiges »Morgen« zu, schüttelte denen die Hand, die ich kannte, und ging an meinen Spind, wo mein schwarzer Anzug schon auf mich wartete. Dann schaute ich auf den Dienstplan, der im Umkleideraum ausgehängt war, um zu sehen, mit wem ich heute fahren sollte und was anstand. Zuerst hatten wir eine Sargfeier in Lankwitz. Es war wieder stickig heute, wir hängten die Jacken über die Lehnen der Vordersitze, schoben die schwarzen Mützen in ein Fach. Ich saß neben einem, dessen hohe Stirn tiefe Narben zeigte. Später erzählte er, dass er vor einigen Jahren einen schweren Autounfall mit knapper Not überlebt hatte und mehrere Wochen im Koma gelegen hatte. Auf dem Weg zum Friedhof rief er vom Handy aus seinen Präsidenten an. Wen er denn da anrufe, wollte einer wissen, er kenne doch sowieso niemanden:

»Wen rufst du denn an? Du kennst doch niemanden außer deiner Mutter?«

»Ruhe, du weißt doch gar nicht, was das ist, ein Präsident! «

»Du bist jedenfalls keiner!«

»Mann, guck auf die Straße, oder willste wieder einen zerschrotten? «

»Hab ich mir den Kopf kaputtgemacht oder du?«

»Hirni! Pass auf, oder willste die Oma gleich hinten einladen? «

»Ach, die hat doch sowieso schon ihr Zettelchen am Fuß!«

Die Männer wollten nicht viel voneinander wissen. Nur wenige kannten sich gut, obwohl sie seit Jahren miteinander fuhren. Erzog der Tod, der sie stets begleitete, zu dieser Art von Witz? War das schwarzer Humor? Sie wirkten auf jeden Fall sehr unsentimental. Als der Mann mit der narbigen Stirn von seinem Präsidenten erzählen wollte, wollte das niemand hören. »Kau mir kein Ohr ab!« Ich fragte ihn trotzdem, weil ich wissen wollte, was das für ein Präsident war. Der Mann war überrascht. Er hatte eine hohe, fliehende Stirn, wenige Haarsträhnen warfen sich quer über den Kopf, die Nase spitz, die Brille eckig. Er blühte regelrecht auf, als ich Neugier zeigte. Er war Mitglied in einem Western Club, der sich »Dodge City« nannte. Die Mitglieder kleideten sich in historische Western- und Cowboy-Kostüme, sie hantierten mit Colts und doppelläufigen Winchesterbüchsen und spielten historische Duelle und berüchtigte Schießereien nach. Er selbst verkörperte Frank James, den Bruder des berühmten Banditen und Revolverhelden Jesse James.

Unterdessen waren wir angekommen und warteten im Schatten der Kapelle auf die Angehörigen. Sie kamen langsam, bedächtig, ihr Schmerz verlangsamte die Bewegungen. Oder war es der Friedhof, der die Körper dirigierte? Der Ort drosselt das Tempo, hier galten andere Geschwindigkeiten. Doch Frank James fühlte sich daran jetzt nicht mehr gebunden. Durch meine Nachfragen hatte ich einen kaum zu vermutenden Elan geweckt. Er erzählte. Er spielte mit großer Geste die besten Szenen der Westerngeschichte nach, taumelte, sank, von Bleigewittern getroffen, beinahe zu Boden, warf den Kopf nach hinten, ließ den Körper zucken, betrat mit verwegenem Blick einen Saloon und schob einen imaginären Stetson mit dem Daumen in den Nacken. Ich versuchte ihn zu bremsen, warf bedeutsame Blicke auf die Trauergemeinde, dämpfte meine Stimme. Er nahm das kurz auf, drehte sich zu den Trauergästen um, maß die Entfernung, zog an der Zigarette und machte weiter. Sie waren, in voller Montur, auch schon auf dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest aufgetreten, und demnächst wollte der Präsident organisieren, dass sie als Statisten bei einem Film mitwirkten. Ihre Duell-Choreographien erforderten einiges Training, die Kostüme und die Waffen müssten in Schuss gehalten werden, und Nachwuchssorgen hätten sie auch.

Auf der nächsten Seite: Frank James steckt den Colt ins Holster

Als die Angehörigen in der Kirche verschwunden waren, erfuhren wir, dass wir hier gar nicht mehr gebraucht wurden. Wir verließen unverrichteter Dinge wieder den Friedhof. Frank James steckte den Colt ins Holster.

Auf dem Plan stand nun eine Heimabholung. Das Heim befand sich irgendwo im Berliner Umland. Diesmal erledigte das Navigationsgerät zuverlässig seinen Dienst. Wir hielten ein kleines Stück vor dem Haupteingang des Altenheims. Einer von uns ging hinein, um zu fragen, wo wir vorfahren sollten, ob es einen für uns bestimmten Eingang gäbe. Er kam zurück, ein Stückchen weiter am Weg sollte es ein kleines Tor geben, dort würde man uns empfangen. Wir fanden dieses Tor zunächst nicht, fuhren vor und zurück, stiegen aus, standen ratlos herum.

Endlich fanden wir das Tor. Wir gingen zu dritt hinein. Eine Mitarbeiterin kam uns entgegen. Es wurde kurz darüber beratschlagt, welchen Weg wir gehen sollten. Möglichst wenige Heimbewohner sollten uns und den Abtransport der Leiche sehen. Die Tote lag allein in ihrem Zimmer. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah. Wir hoben sie vom Bett gleich in den Sarg. Sie fühlte sich kühl an. Als wir sie hinüberheben wollten, stieß der Körper leicht an den Rand des Sarges. »Pass doch auf!« Niemand bemerkte uns, als wir das Heim verließen. Einer der Sargträger meinte, das Hinüberheben der Leiche wäre dilettantisch gewesen, in einem Hospiz dürfte man sich so einen Fehler nicht erlauben. Wenn man da mit dem Körper an den Sarg stieß, gäbe es einen Höllenärger, da würde genau auf solche Details geachtet. Wir fuhren wieder zurück in die Stadt.

Wenn wir, die Bestatter, die Transporteure des Todes, uns so unauffällig wie möglich verhalten sollen, warum fahren wir dann immer noch mit einem schwarzen Wagen und in schwarzen Anzügen durch die Welt? Ist es dieses geringfügige Maß an Trauer und Tradition, das man sich in dieser Gesellschaft noch gestattet, das man zulassen will? Oder müssen wir kenntlich bleiben, damit die, die den Tod fliehen, uns schon von weitem erkennen und uns aus dem Weg gehen können? Ist in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft die Farbe Schwarz der letzte Restbestand an Trauerbrauchtum, auf das sich alle noch einigen und einlassen können?

Ich kam mir wie ein schwarzer, unheilvoller Vogel vor. Wir fuhren durch die Straßen, und kaum jemand ließ sich auf einen engeren Blickkontakt mit uns ein, obwohl ich merkte, dass man uns deutlicher wahrnahm als einen Wagen mit, sagen wir einmal, Heizungsbauern. Man sah uns im Augenwinkel, im Rückspiegel. Wir gingen zwar, wie alles, unter im Gewühl der Stadt, aber wir blieben ein dunkler Unruheherd, wir waren ein mobiler Riss quer durchs kollektive Gemüt und die herrschende Betriebsamkeit.

Meine letzte Fahrt mit dem Leichenwagen stand an. Wir sollten eine Tote aus der Pathologie eines Krankenhauses abholen. Auch hier, auf dem Krankenhausgelände, wurden wir, so gut es ging, dem Blickfeld der Öffentlichkeit entzogen. Wir parkten vor einem rückseitigen Eingang und mussten auf einen Aufzug warten, der uns nach unten fuhr.

Die Pathologien, da, wo in Krankenhäusern die Leichen liegen, sind fast immer im letzten Winkel des Gebäudes versteckt, am besten tief unter der Erde, und die Gänge sind schummrig beleuchtet, lang und unwirtlich. Hierher verliert sich kaum ein Mensch. Nur der Pathologe, seine Helfer und wir.

Es dauerte lange, bis jemand auf unser Klingeln reagierte. Der Aufzug kroch. Der Pathologe, der uns unten empfing, war ein Hüne mit schiefen Schultern, kahlem Schädel und melancholischen, leicht verschwitzten Augen. Er schlug einen gemütlich-humorvollen Tonfall an. »Na, Jungs, wen wollt ihr denn holen?« Wir waren unter uns. Totenmänner, die mit den Leichen lebten. Der Riese im weißen Kittel lud uns ein: »Na, dann kommt mal mit!« Wir gingen in den Kühlraum. In den Stahlregalen lagen die Toten. Der Pathologe machte eine kleine Totenführung. »Der da hat im Restaurant gesessen, den Mund zu voll genommen und ist erstickt.« Er blickte suchend um sich. »Na, wo ist sie denn, unsere kleine Martha?« Er fand sie. Es war eine große, stattliche und beleibte Frau. »Martha hat zu viel Kuchen gegessen. Jetzt liegt sie hier, die Martha!« Wir legten sie auf einen Scherenwagen, fuhren sie aus dem Kühlraum hinaus und begannen, sie einzubetten. Zunächst einmal mussten wir sie anziehen. Um ihr eine Unterhose anziehen zu können, mussten wir die Beine hochstemmen. Zuletzt zog ich ihr noch die Schuhe an. Es war ein Paar glänzender Lackschuhe, Modell Betty. Meine Augen wurden feucht. »Komisch, dass ich es bin, der dir die letzten Schuhe anzieht, Martha.« Ich fragte mich, wer ihr die ersten Schuhe ihres Lebens angezogen hatte. »Sicher die Eltern, so lange, bis du es dann selber konntest. Ob diese Schuhe deine Lieblingsschuhe waren? Wie viele Paar Schuhe hast du überhaupt in deinem Leben getragen? Was ist alles passiert zwischen deinen ersten und diesen letzten Schuhen?« Und jetzt mit Modell Betty ins Krematorium. Mir kam meine Rührung klebrig vor, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich versuchte, ihr die Schuhe so behutsam wie möglich anzuziehen. Ihre Beine waren zwar geschwollen, aber die Füße waren recht klein, so dass es ein Leichtes war. Ich machte eine doppelte Schleife. Für die lange Reise. Dann fuhren wir hoch. Der Pathologe war verschwunden.

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Als wir wieder auf dem Hof waren, luden wir Martha aus und fuhren sie in den Keller. Hier blieb sie und wartete.

Herr Eibe bat mich noch zu einem Gespräch in sein Büro. Er wollte wissen, wie es mir ergangen war. »Nehmen Sie einen Espresso?«

Ich bin jetzt reicher. Die Begegnung mit den Toten hat mich verändert. Alles, was man begrifflich über den Tod und das Sterben wissen kann, was man sich anlesen oder durch die Medien erfahren kann, ist nicht alles. Erst in der unmittelbaren Begegnung mit den Toten bekommt die eigene Sterblichkeit eine tiefe Sinnlichkeit. Erst jetzt weiß ich, was ich schon lange wusste: Auch ich werde so enden. Die Hinfälligkeit meines Körpers ist mir jetzt deutlicher, ich spüre schon jetzt, wie mich manches verlässt. Vielleicht geht dieses Gefühl wieder verloren, aber ich bin nachsichtiger mit mir, mit anderen. Ein bisschen friedlicher ist es in mir. Ein kleines bisschen friedlicher, immerhin. Für heute. Und morgen? Meine Koordinaten, nach denen ich lebe, sind mir verdächtig geworden. Solange man lebt, kann man sich bewegen. Und sich bewegen lassen. Wenn sich nichts mehr rührt, sollte man sich fragen, ob man lebt.

Der Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus Torsten Körners Buch „Probeliegen. Geschichten vom Tod“, das im Scherz-Verlag erscheint (416 S., 18,95 €). Der Autor stellt es am Dienstag, 11. 10., um 19 Uhr im Gespräch mit Jörg Thadeusz in der St.-Matthäus-Kirche am Kulturforum vor. Der Eintritt ist frei.

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