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Kultur: Vorschau: Schreibwaren

Die Physiognomik der Lesewoche wird zu Unrecht völlig unterschätzt. Ich meine nicht die Psychopathologie der Woche mit der üblichen Montagsdepression, auf die außerordentlich zauberhafte Dienstage folgen, bevor sich der Horizont Mittwoch und Donnerstag vor Erschöpfung, Ödnis und Götzendienst wieder verschattet.

Die Physiognomik der Lesewoche wird zu Unrecht völlig unterschätzt. Ich meine nicht die Psychopathologie der Woche mit der üblichen Montagsdepression, auf die außerordentlich zauberhafte Dienstage folgen, bevor sich der Horizont Mittwoch und Donnerstag vor Erschöpfung, Ödnis und Götzendienst wieder verschattet. Sondern jenes systematisierende Verständnis der Kräfte, die bei der unregelmäßigen Verteilung der Lesungstermine auf die zur Verfügung stehenden sieben Abende wirken. Sie sind einstweilen freilich allenfalls und wenn überhaupt in Umrissen zu erkennen, bringen jedoch in der kommenden Lesewoche eine recht eindeutige Gestalt zustande. Nennen wir sie die schmerbäuchige Lesewoche, die sich unter Vernachlässigung der Ränder auf ihre Mitte konzentriert: Mittwochdonnerstagmaikewetzelmarusakresemarenhombrecherpéternádasthorstenbeckeringoschulzejuliannida-rümelin. Der Rest ist Schweigen, ebenso wie zu Wochenanfang.

Die pyknische Gestalt der Lesewoche, die ein manisch-depressives Wesen vermuten lässt, wäre beinahe noch griffiger ausgefallen. Doch Ulla Hahn sagt ihre Lesung am Mittwoch im Literarischen Colloquium erneut ab. Nun ist drei jungen Damen im Literaturforum der Auftakt vorbehalten: Maike Wetzel, Marusa Krese und Maren Hombrecher. Sie haben bis auf ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats kaum etwas gemeinsam, was einige Abwechslung garantieren dürfte (30.1., 20 Uhr).

Am selben Abend, zur selben Uhrzeit liest der Ungar Péter Nádas im Haus der Berliner Festspiele (30.1., 20 Uhr) aus "Schöne Geschichte der Fotografie", einem so kalkulierten wie fiebrigen Reigen aus Erotik und Tod. Berühmt geworden ist der Metaphysiker 1991 mit dem sogartig dahinfließenden "Buch der Erinnerung", einem monumentalen Jahrhundertroman voller Liebeskonfusionen, die aus Blicken, Gesten, Berührungen und unmerklichen Veränderungen der Atmosphäre entstehen.

Einige Jahre zuvor hatte Thorsten Becker in seinem Debüt "Die Bürgschaft" die Transitautobahn zum letzten bundesdeutschen Refugium des Erzählens erklärt. Aber siehe da, es ging nach 1989 auch ohne, immer entlang der Maxime: "Ich erfinde nichts. Ich gebe Stoffen einen neuen Klang." Aus Heiner Müller wurde so Fritz Meier. Nun widmet sich Becker in "Der Untertan steigt auf den Zauberberg" einer bekannten deutschen Familie (Buchhändlerkeller 31.1., 21 Uhr).

Eine Stunde früher beginnen Ingo Schulze und Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin am Donnerstag im Haus der Berliner Festspiele (31.1., 20 h) ihren "Dialog". Worüber? Ist vielleicht nicht so wichtig. Möglicherweise sprechen sie über Schulzes liebevolle Briefe aus Petersburg an einen todkranken Freund ("Von Nasen, Faxen und Ariadnefäden", Friedenauer Presse). Oder darüber, ob erwartete Folgen das Handeln bestimmen dürfen. Oder über Peter Handkes neuen Roman "Der Bildverlust", in dem es heißt: das Wort "Dialog" komme inzwischen selbst unter Zuchthäuslern häufiger als "Scheißdreck" oder "ficken" vor.

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