zum Hauptinhalt
Wie geht’s weiter? Franz Rogowski spielt Henri, einen jungen Komponisten, der einen teuflischen Pakt eingeht.

©  Sebastian Bolesch

"Votre Faust" in Berlin: Du musst dich entscheiden

„Votre Faust“ von Henri Pousseur und Michel Butor war die erste Mitmach-Oper. An Ostern wird sie im Radialsystem aufgeführt - es ist erst die vierte Inszenierung des Stücks überhaupt. Ein Probenbesuch.

Drei Musiker sitzen im Käfig, „Füttern verboten“ steht drauf. Eine Flöte breitet ihren sinnlich-weitgespannten Klang diffundierend über den Saal aus, eine Ratsche fährt zwischenrein, „Ritsch- Ratsch“, Tonhöhe: nicht definierbar. Jemand singt ein ein Petrarca-Sonett, vom Band kommen Einspielungen dazu, Gedankensplitter eines noch unbekannten Ichs. Phantasmagorisch das Ganze, lauernd, wild und bohrend. Was das ist? Hier proben Regisseurin Aliénor Dauchez und Dirigent Gerhardt Müller-Goldboom und sein Orchester „Work in Progress“ den Faust. Aber nicht den von Marlowe, Goethe, Thomas Mann, auch nicht von Berlioz, Gounod, Busoni oder einem der anderen unzähligen Dichter und Musiker, die sich des Stoffes angenommen haben. Sondern von Henri Pousseur, dem französischen Komponisten und Exponenten der Darmstädter Moderne, gestorben 2009. „Votre Faust“ heißt diese Oper, Michel Butor hat das Libretto geschrieben. Uraufgeführt wurde sie 1969 am Kleinen Haus der Mailänder Scala und seither erst zwei Mal gespielt, in Gelsenkirchen und Bonn. Und jetzt in Berlin, am 30. März ist Premiere im Radialsystem.

Der Pakt zwischen Faust und Mephisto findet hier in Gestalt eines Theaterdirektors statt, der einem jungen Komponisten namens Henri – gespielt von Franz Rogowski – den Auftrag zu einer Faust-Oper gibt. „Votre Faust“, das heißt „Euer Faust“, und genau so ist es auch. Das Publikum wird zum Akteur, es soll, nein muss mitmachen, über den Fortgang der Handlung entscheiden. 1969 war das neu und revolutionär, wenn es sich auch angekündigt hat. John Cage denkt ja in seinem legendären 4’33’’ (1952) die Gefühle, die die erzwungene Stille bei den Hörern auslöst, bereits mit. Yoko Ono lässt sich 1964 in „Cut Piece“ von den Besuchern ihr Kleid zerschneiden, Peter Handke beschimpft 1966 das Publikum. Demokratisierung der Kunst, Mitbestimmung spielten dabei sicher eine Rolle, Rebellion und Desakralisierung von Figuren, wie sie Michel Butor ja auch im „Nouveau Roman“ betrieben hat. „Pousseur und Butor wollten auch in die Oper Variabilität und Offenheit bringen“, erklärt Dauchez. „Aber eben nicht zufällig, sondern begründet. Deshalb die Publikumsbeteiligung.“

Die 28-Jährige Französin lebt seit sieben Jahren in Berlin. Sie muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Wenn Mitmachtheater schon 1969 nicht ganz neu war, dann ist es das heute noch viel weniger. Fabian Hinrichs setzt an der Volksbühne die rotierende Zahnbürste dicht vors Gesicht einer Besucherin und beschwört den Terror des interaktiven Theaters (in: „Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!“). Ward Weemhoff von der Truppe andcompany&Co. rennt im HAU splitterfasernackt durch die Zuschauerreihen (in: „Der (kommende) Aufstand nach Friedrich Schiller“). Die Performer von Signa laden die Besucher zum Höllentrip, frei nach Dante, in den Wedding. Und ein Auftritt im Fernsehen ist schon lange nichts Besonderes mehr, jeder darf sich prominent fühlen, ungezählte Talkshows und Sendungen vom Format „Deutschland sucht den Superstar“ erheben das Mittelmaß zum Maß aller Dinge. Wie will Dauchez da noch Aufmerksamkeit erregen, ein übersättigtes Publikum tatsächlich zum Mitmachen animieren?

Das Publikum soll merken: Seine Entscheidung ist von moralischer Relevanz

Im Radialsystem wird ein Jahrmarkt aufgebaut, Inbegriff der Unterhaltung und der Verführung, komplett mit Buden, Markständen, Zuckerwatte, Schießständen, echten Tieren. „Ich will die recht abstrakte Geschichte damit auch stärker in der Realität verankern“, erzählt die Regisseurin, die ursprünglich Stadtentwicklung studiert hat und sich schon schon allein deswegen mit der Körperlichkeit der Dinge, ihrer konkreten Anfassbarkeit auskennt. An Umschlagpunkten der Geschichte werden die Besucher per demokratischer Abstimmung zu Entscheidungen aufgefordert. Oder sie müssen schreien, sich lauthals beschweren, und dabei die Musiker übertönen, die ebenfalls lauter spielen. So entwickelt sich das Stück wie kommunizierende Röhren. Jede Entscheidung des Publikums zieht einen anderen Handlungsstrang nach sich, das Geschehen verzweigt sich wie ein Weihnachtsbaum.

Und wenn keiner mitmacht? „Wir motivieren die Leute, indem wir ihnen klar machen, dass das, was sie entscheiden, moralische Relevanz hat“, erklärt Dauchez. Henri zum Beispiel steht zwischen zwei gretchenhaften Frauen, Maggy, dem klassischen Gretchen, und Greta, einer emanzipierten Frau. Je nachdem, welcher der beiden Henri nach dem Willen des Publikums folgen soll, verläuft die Geschichte anders. Er trägt dabei einen Pullover aus Menschenhaar. In vielen Ländern verkaufen Menschen ihre Haare, um an Geld zu kommen, und auch Henri wird seinen Körper verkaufen. Gegen Entgelt kann jeder mit ihm in einem Nebenraum verschwinden. Mitmachen oder nicht? „Wir wollen nicht in erster Linie schockieren“, sagt Dauchez, „sondern einen Impuls, eine Haltung beim Besucher auslösen.“

Dass „Votre Faust“ jetzt zum vierten Mal aufgeführt wird, geht maßgeblich auf die Initiative von Gerhardt Müller-Goldboom zurück.  „Für mich ist diese Oper eine der bedeutendsten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, sagt er. Pousseur würde mit ihr der gesamten Faust-Tradition seit dem Spätmittelalter bis heute ein Denkmal setzen. So bezieht sich etwa der 5/8-Takt zu Beginn eines jeden Abschnitts auf das Pentagramm, den fünfzackigen Stern, der bei Goethe Mephisto am Verlassen von Faustens Studierstube hindert. Aber wie Goethes Pentagramm ist dieser Takt unvollständig: Der jeweils erste Schlag fehlt. Pousseur verwendet in seinem Stück uralte Formen – und weist zugleich weit in die musikalische Zukunft hinein.

Premiere am 30.3. im Radialsystem. Eine Publikumsgespräch mit Michel Butor ist für den 31.3. oder 1.4. geplant. Aktuelle Informationen unter www.votrefaust.de.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false