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Jubiläumsaufmarsch. Die United Wa State Army steht Spalier.

© YouTube

Wa-Staat in Myanmar: Am Rand des Reichs der Mitte

An der Grenze zu China liegt auf burmesischem Gebiet ein Land, das völkerrechtlich gar nicht existiert: der Wa-Staat. Der "Merkur" schreibt darüber in seinem Augustheft.

Von Gregor Dotzauer

Im Nordosten Myanmars, an der Grenze zur chinesischen Provinz Yunnan, hat sich ein seltsames Land eingenistet. Für die burmesische Regierung heißt es Special Region 2 und zählt zur Verwaltungseinheit seiner Shan-Staaten, während es die gute halbe Million Menschen der ethnischen Minderheit, die sich dort zu Hause fühlt, schlicht als Wa-Staat bezeichnet. Es wird beherrscht von einer einzigen Partei, der United Wa State Party, und ihrem militärischem Arm, der United Wa State Army (UWSA). Die offizielle Währung ist der chinesische Renminbi, und als Amtssprache dient Mandarin – neben dem austroasiatischen Wa, das überhaupt erst im 20. Jahrhundert eine Schriftform annahm.

Nachdem die Wa auch eine der 55 von der Volksrepublik offiziell anerkannten Minoritäten sind, die mit gut 400 000 Menschen überwiegend in Yunnan lebt, und der Grenzverlauf bis 1960 offen war, ist das chinesisch-burmesische Doppelleben historisch kein Wunder. Überraschend ist der Status, den es beansprucht. Mit Myanmars Regierung hat der Wa-Staat, solange die jetzige Verfassung gilt, Autonomie ausgehandelt, dringt aber nicht auf Unabhängigkeit.

Auch heim ins chinesische Reich will und soll er keineswegs, zumal er völkerrechtlich gar nicht existiert. Die martialischen Aufmärsche der UWSA, wie sie auf YouTube zu sehen sind, demonstrieren nichtsdestoweniger, wie man das eigene Territorium, das sich mit einem zweiten Abschnitt, der 171 Military Region, auch an der Grenze zu Thailand befindet, notfalls zu verteidigen gedenkt. Wie schlagkräftig die UWSA nach innen ist, bewies sie, als sie auf Betreiben Chinas die Opiumproduktion unterband. Dafür soll inzwischen die Herstellung von Amphetaminen blühen.

Eine Miniaturversion von China?

Eine Bananenrepublik? Der an der Londoner School of Economics (LSE) lehrende Ethnologe Hans Steinmüller porträtiert die „Bergfestung“ im Hochland Burmas im Augustheft des „Merkur“ (Nr. 807, Klett-Cotta, 12 €) weniger als lächerliches denn als „potentiell gefährliches Abbild Chinas“ – und als Beispiel für „verschiedene und alternative Modernen in diesem Teil der Welt“.

An der Oberfläche, schreibt Steinmüller, „mag der Wa-Staat als Miniaturversion, als billige Kopie der großen Volksrepublik erscheinen. In Wahrheit jedoch standen die Bewohner dieser Region dem chinesischen Einfluss nie tatenlos gegenüber.“ In vier Abschnitten zeichnet er das Gebilde als eigenständiges Produkt der Zeiten und Fronten, zwischen die es geraten ist: Von allen Kräften, die bis heute an ihm zerren, sind Spuren vorhanden.

Die störrische Mentalität des Bergvolks, das sich nicht ohne gelegentliche Raubzüge in die benachbarten Täler über Jahrhunderte allen fremden Mächten entzog, ist ungebrochen. Sogar die britischen Kolonialherren versuchten gar nicht erst, das Volk der einstigen Kopfjäger zu unterwerfen: Sie hielten es in seiner Kriegslüsternheit für harmlos und für wirtschaftlich unerheblich. Maos Truppen schulten die Wa dann allerdings in den einschlägigen Guerillatechniken, mit denen diese sich in den Dienst der illegalen Kommunistischen Partei Burmas stellten.

Dem neokolonialen Gebaren etwas entgegensetzen

Nach dem Abfall von ihr, im Zeichen von Pekings autoritärem Kapitalismus und dessen Korruptionsanfälligkeit, wird der Wa-Staat neuerdings von Investoren aus der Volksrepublik heimgesucht. Sie versuchen, Kapital aus den Bodenschätzen zu schlagen und mit Spielhöllen Geld zu verdienen. Der Ehrgeiz der Wa, dem neokolonialen Gebaren eine eigene Identität entgegenzusetzen, zeigt sich in lokalen Fernsehsendern und Websites.

Steinmüllers Text gehört zu einem China-Schwerpunkt des „Merkur“, dessen schwächster Teil ausgerechnet der einführende Essay des Göttinger China-Historikers Dominic Sachsenmaier ist. Ein temperamentloses Einmaleins der Urbanisierung und ihrer Folgen für Verkehr, Umwelt und das Gesicht der Städte. Zeitungsleser bekommen es in den Berichten des „SZ“-Korrespondenten Kai Strittmatter oder denen des „FAZ“-Reporters Hendrik Ankenbrand Tag für Tag aktueller, anschaulicher und mit stärkerem diagnostischem Zugriff. Lohnend dagegen die beiden Beiträge zum Ende der Ein-Kind-Politik, deren Nachwirkungen das Land noch Jahrzehnte beschäftigen werden.

Die Kunst des einverständigen Lachens

Die 1980 geborene Sheng Yung, Redakteurin der „Shanghai Review of Books“, zeichnet unter dem Titel „Kleine Kaiser“ ein ambivalentes Erfahrungsbild, in dem sich viele gesamtgesellschaftliche Konflikte spiegeln. Unter anderem wägt sie die Brutalität, der Schwangere (und ihre Ungeborenen) ausgesetzt waren, gegen die Aufstiegschancen von Frauen ab, die vorher zum Gebärmaschinendasein verdammt waren. Dazu kommt mit der Geschichte der aus Hainan stammenden Fred ein Kapitel aus Alec Ashs nun bei Hanser erscheinender Großreportage „Die Einzelkinder“ über sechs junge Leute und ihre Zukunftsträume.

Der in Peking lebende Engländer, Begründer der von Ex-Pats verantworteten Website anthill.org mit Stories aus China, ist ein ausgezeichneter Journalist mit Talent zum literarischen Schreiben: Man würde ihn überall gerne lesen. Für das Gepräge des „Merkur“ typischer ist vielleicht der Feldforscher Hans Steinmüller. Auf seiner Homepage bei der LSE finden sich weitere instruktive Veröffentlichungen – darunter ein Aufsatz über die Codes des chinesischen „Savoir-rire“, die Kunst des einverständigen Lachens in der Öffentlichkeit.

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