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WÄHLEN (4): Woanders wäre alles anders

Noch drei Tage: Der Countdown läuft. Wir wählen schon mal – Begriffe, die dem Ereignis Bundestagswahl auf eigene Weise näherkommen.

Den Globus auf den Tisch stellen. Einmal kräftig drehen. Ssssrrr. Augen zu. Mit dem Finger auf die Kugel tippen. Augen auf – und schon ist eine neue Heimat gefunden. Georgien? Okay, los geht’s. So frei und romantisch sieht das mit der Wahlheimatsuche meistens nur in der Fantasie oder im Film aus. Doch die Wohnortfrage ist eine Schicksalsfrage. Was man leicht vergisst, wenn sie in ruhigen Von-der-Kleinstadt- in-dieUnistadt-in-die-Hauptstadt-Bahnen abläuft oder nur von einem Kiez in den nächsten führt. Dabei ist eigentlich offensichtlich, dass in einer anderen Stadt wohl auch die große Liebe ganz anders hieße oder man noch nach ihr suchte, die Kinder wären andere oder es gäbe gar keine. Die Freunde, die Arbeit – woanders wäre alles anders.

Viel bewusster ist das Menschen, deren Wahlheimat nicht ihre erste Wahl war. Wenn sie unter Druck getroffen wurde, politischen, beruflichen, romantischen oder ökonomischen Umständen geschuldet war. Es gibt wahrscheinlich ebenso viele Gründe wie Wahlheimatsuchende. Und ebenso gemischte Gefühle. Bei Exilanten dürfte erst mal die Erleichterung vorherrschen, an einem relativ sicheren Ort zu sein. Aber dann gibt es auch das schlechte Gewissen: Habe ich meine Verwandten und Freunde im Stich gelassen? Und die Frage: Wer wäre ich geworden, wenn ich geblieben wäre? Sicher hilft die Zeit: Wer länger in der neuen als in der alten Heimat lebt, wird sich dort etwas aufbauen, sich einbringen und damit auch die Wahlheimat verändern.

Berlins Kulturlandschaft profitiert seit jeher davon, dass die Stadt sowohl für inländische als auch für ausländische Künstlerinnen, Musiker, Filmemacher, Autorinnen und Tänzer ein attraktives Ziel darstellt. Derzeit ist der Hipness-Faktor besonders hoch, worauf sich Berlin aber nicht ausruhen sollte: Schnell dreht sich das Wahlheimat-Karussell weiter. Ssssrr – und plötzlich wollen alle nach Warschau, Istanbul, Riga.

Bisher erschienen: Wählscheibe (16. 9.), Seitenwahl (18. 9.), Damenwahl (19. 9.).

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