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Wagner-Festspiele in Bayreuth: Der Kampf um eine Karte

Auf Festspieltickets für Bayreuth warten gewöhnliche Menschen Jahre, oft viele Jahre. Man kann es auch anders machen: hinfahren und anstellen. Oder schickt sich das nicht? Wie weit man für sein Glück gehen darf - eine Geschichte der Selbstüberwindung.

Ich bin da! Das ist schon die halbe List. Auf Bayreuth-Karten warten gewöhnliche Menschen Jahre, oft viele Jahre. Aber ich nicht.

Warten ist der ganz falsche Ansatz, Warten ist viel zu passiv. Zwar erkennt der Adressat, wenn nach einem halb verwarteten Leben endlich die Bayreuth-Karten bei ihm eintreffen – der ganze „Ring“, sagen wir, für 740 Euro mittlere Preisgruppe Parkett –, was Empfänger von Zahlungsaufforderungen sonst fast nie bemerken: Ich bin erhöht! Ich bin auserwählt! Das ist natürlich sehr schön. Das passiert nicht oft im Leben. Aber warum so spät? Und wer garantiert einem, dass man beim Eintreffen der Billetts noch am Leben ist?

Nein, so geht das nicht. Es kommt darauf an, einfach loszufahren.

Am Anfang ist die Tat. Und natürlich die Wahrscheinlichkeitsrechnung: In einem Provinztheater mit fast 2000 Plätzen können unmöglich alle besetzt sein. Und wirklich, das Kartenbüro ist ganz leer. Na bitte! Aber irgendetwas, das spüre ich gleich, stimmt nicht mit diesem Office. Nichts deutet darauf hin, dass sich hier in jüngster Vergangenheit etwas ereignet hätte, was an allen Abendkassen auf der Welt zu geschehen pflegt: Kartenverkauf. Keine Anzeichen von Geschäftstätigkeit, der Raum ist vollkommen leer.

Die freundliche Dame an der vielleicht seltsamsten Abend-, nein Nachmittagskasse der Welt lächelt mich mit sanfter Nachsicht an: Nein, mit Tickets habe man eigentlich nichts zu tun, die seien schließlich längst verschickt.

Erst jetzt bemerke ich draußen die festlich gekleideten Frauen und Männer, die ich bei meinem Triumphlauf ins Kartenbüro glatt übersehen hatte und die sich von den anderen Festspielgästen eigentlich nur durch ein weißes Schild unterscheiden, das sie vor der Brust tragen. Manchmal ist das „Suche Karte!“ in großen Lettern gedruckt und sorgfältig in eine Folie gesteckt. Andere Gesuche sind handgeschrieben, manch eines in zu kleinen, zu defensiven Buchstaben, aber ein allzu herrisches Schriftbild, überlege ich, einen weiteren Versuch betrachtend, ist für einen Bittsteller ebenso unangemessen. Und ob Formulierungen wie „Her den Ring!“, wie auf dem Schild einer Verzweifelten zu lesen, eine Chance haben?

Demut ist die erste Tugend der Habenichtse. Menschen, die Schilder um den Hals tragen, sind herausgefallen aus der Gesellschaft, das lehrt jede Einkaufspassage. Kein Zweifel, dies hier sind die Festspiel-Nibelungen.

Keine zwei Stunden mehr bis zum Beginn des „Rheingolds“. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass ich entweder gleich wieder nach Hause fahre oder aber mich vor mir selbst bereit erkläre, auch ein solches Schild zu malen. Und es dann mit Würde zu tragen. Und es auch nicht sinken zu lassen. Das letzte Mal habe ich vor unvordenklichen Zeiten, als ich noch jung war und Autofahrer Tramper mitnahmen, mit einem solchen Schild am Straßenrand gestanden. Nein, es ist zu unangenehm. Es ist ausgeschlossen.

Und dann schreibe ich doch, ich finde nur einen Bleistift, der Zettel ist auch zu klein, die Schrift zu blass, so schnell wird man zum Dilettanten.

Die Eintrittsberechtigten ziehen an uns vorbei wie die Götter am Ende des „Rheingolds“ nach Walhall, die meisten blicklos, manche auch lächelnd, aber niemand hat eine Karte zu viel. Wir Ausgeschilderten schauen uns an, wir bilden ohne Zweifel eine prekäre Solidargemeinschaft, eine Parallelgesellschaft vorm Festspielhaus.

Und irgendwann bemerke ich auch den Festspiel-Alberich. Alberich ist der, der den Rheintöchtern drinnen, wo wir alle hinwollen, gleich das Gold wegnehmen wird, weil sie ihn auslachen. Und kommt das größte Unheil nicht bis heute aus gekränktem Selbstgefühl, ob man es nun Ehre nennt oder anders? Es ist ein tiefer Gedanke Wagners. Alberich ist der Liebe-Lose, der den Ring gewinnt.

Heute würde man sagen, das ist sein Alleinstellungsmerkmal. Das Alleinstellungsmerkmal des anderen Alberichs vor der Abendkasse ist, dass er, obwohl es keine Karten gibt, trotzdem welche hat. Er zeigt mir eine.

40 Euro auf der Galerie, wo man nichts sieht. Was ich dafür geben würde?

Natürlich will der Mann Rendite, wahrscheinlich zögere ich einen Augenblick zu lange.

Vergessen Sie’s!, sagt er, mir zuvorkommend, mit einer wegwerfenden Gebärde, und seine Stimme wird ganz dünn vor Verachtung.

So schnell wechselt man die Seiten des Lebens, wird zu jemandem, dem die elementarste Höflichkeit verweigert wird. Egal, was ich ihm noch bieten würde, er gäbe mir die Karte nicht mehr. Denn er besitzt wie der andere Alberich maaaßlose Maaacht. Er kostet sie aus.

Der Abgrund liegt gleich neben jedem Bürgersteig. Es ist gut, das zu wissen.

Im Festspielhaus beginnt das Wiegenlied der Welt, dieses unglaubliche Es-Dur, 136 Takte lang der Strom des Lebens, die Urtiefe, ich schiebe mich so leise als möglich durch eine Außentür, vielleicht hört man auch so etwas, das Ohr ganz nah am geschlossenen Saal. Man hört wirklich etwas, aber eine Hand fasst mich an der Schulter und ich werde wie ein Delinquent nach draußen geleitet.

Gedemütigt, schon wieder, streune ich durch den schönen Park vorm Festspielhaus, beneide ein Kind auf der Schaukel – auch Schaukeln ist eine Form des Sicheinschwingens in die Zeitlosigkeit – und finde gleich nebenan den Biergarten „Zum Mohren“.

Der Biergarten ist mehr ein zugerümpelter Parkplatz, die Bänke in Brüllorange mit verschlissenen lila Sitzkissen. „Mohrenbräu“ also. Die anderen können den Urquell des Lebens nur hören, ich aber kann ihn trinken. Ein Großes bitte, ein sehr Großes! Näher am Festspielhaus und weiter weg zugleich kann man nicht sein.

Und dann öffnet sich die Tür: Eine Karte! Eine einzige!

Der Wirt empfiehlt allen Gästen die Kutscherplatte. Ich lese im „Ring“-Programmheft über Kierkegaards Begriff des „Unglücklichsten“, es gibt niemanden, der mir im Augenblick näher wäre.

„Wenn aber die in der Hoffnung lebende Individualität auf eine künftige Zeit hofft, obgleich dieselbe für sie niemals eine Realität werden wird, oder wenn die in der Erinnerung lebende Individualität an eine künftige Zeit zurückdenkt, die keine Realität für sie hatte: seht, dann haben wir die eigentlich unglücklichen Individualitäten.“

Kierkegaard hat recht, jeder Hinterbliebene seiner Wünsche weiß das. Auch Kierkegaard würde in diesem Jahr 200, wie Wagner. Beide haben wie niemand zuvor über die Weltangst und das Unglück nachgedacht.

Der Biergarten wird voller und lauter. „Da, wo jetzt die Klos sind, wird das Bad sein!“, ruft der Heimwerker gegenüber mitten in meine Kierkegaard-Lektüre: „Ich grüße dich, du großer Unbekannter, dessen Namen ich nicht kenne, ich grüße dich mit deinem Ehrentitel: du Unglücklichster! Sei in deinem Hause gegrüßt von der Gemeinde der Unglücklichen.“ – „Ich brauche drei Kisten Weizenbier, dann fange ich an zu arbeiten“, erläutert der Mann, der weiß, wo die Klos bald nicht mehr sein werden.

Nein, hier kann man nicht Kierkegaard lesen. Irgendwann beginne ich mitzuschreiben, was meine Nachbarn sagen, einfach so. Wie nennt man Leute, die mitschreiben, was andere sagen? Es ist mir egal.

Am nächsten Mittag ist die Gemeinde der Unglücklichen schon vollzählig vorm Kartenbüro versammelt, als ich komme. Bis Ende August – so lange dauern die Festspiele – muss sie es schaffen. Es ist „Walküren“-Tag, Wotan wird „Der Unglücklichste bin ich von allen!“ singen, eine Überzeugung, die auch sein Schöpfer immer wieder teilte. Manchmal gibt es vereinzelte Rückläufer über Agenturen, und um einen dieser Solitäre zu erwerben, muss man spätestens bei Kassenöffnung, zweieinhalb Stunden vor Vorstellungsbeginn da sein, am besten natürlich schon seit dem frühen Morgen, schon wegen eines aussichtsreichen Platzes in der Wartegemeinschaft. Die anderen haben das besser beherzigt.

„Der Unglücklichste von allen“. Was qualifiziert für diese exzentrische Position? Man muss der Hinterbliebene aller seiner Pläne sein. Ob Götter oder Nibelungen, ob die Besserverdienenden da oben oder die Schlechtweggekommen unter Tage – verworfen sind sie alle. Das Gold ist nur schön auf dem Grund des Rheins, so fasst sich Wagners Kapitalismuskritik zusammen. Es ist erstaunlich, dass so viele das immer wieder sehen wollen.

Eine französische Philosophiestudentin, die sich für Wagner als Komponisten ihres Lebens entschieden hat, schon weil ihre Mutter Verdi liebt, sagt, dass sie eigentlich noch viel zu jung sei für die Auszeichnung, in Bayreuth Einlass zu finden. Allerdings war sie dieses Jahr hier schon zweimal im „Rheingold“ und einmal im „Tannhäuser“. Das macht demütig.

Der Holländer neben ihr schaut sie tadelnd an. Wenn er an etwas nicht glaubt, dann daran, dass er zu jung sein könnte für einen Platz im Festspielhaus, im Gegenteil. Er sei schon seit morgens um acht da, er hat gewissermaßen ein Anrecht auf seinen Platz erworben. Je näher der magische Moment der Öffnung des seltsamsten Ticketoffice’ der Welt rückt, setzt eine merkwürdige Bewegung in der Gemeinde der potenziell Unglücklichen ein. Alle drängen näher an die Tür, sind aber zu wohlerzogen, um das merken zu lassen. Es ist das ewige Problem der Grenze: Wie weit darf ich zu weit gehen, ohne zu weit zu gehen?

Und dann öffnet sich die Tür. Raunend verbreitet sich die Botschaft: Eine Karte! Eine einzige! Und der sie bekommt, ist nicht der Holländer. Ein Kreis bildet sich um den Bevorzugten, um die Eine, die Einzige anzustaunen wie eine Reliquie. Reihe 1, Familienloge, flüstert jemand.

Natürlich ist Alberich auch wieder da, er lächelt viel und ruft einem vorübergehenden alten Bayreuther ein wohlgestimmtes „Guten Tag, mein Freund!“ zu. – „Freund kann man wohl nicht sagen“, antwortet der Passant, und lässt den Gruß gleich ganz weg. Jetzt lächelt die Wartegemeinde. Es ist schon viel leichter am zweiten Tag, das Schild zu tragen. Zwei vollendet gekleidete Newcomerinnen, die nicht den Eindruck machen, als würden sie die 100-Euro-Scheine zählen müssen, halten es den ersten Besuchern entgegen, als handele es sich um eine Auszeichnung. Wieder strömen alle vorbei.

Und dann geschieht es doch.

Ein Mann mit rotgepunkteter Krawatte, sehr diskret, Typus Steuerberater, bleibt stehen und ist im Nu umgeben von der Gemeinde derer, die es ablehnen, schon wieder unglücklich zu sein. Ich komme fast als Letzte in den Kreis, rufe aber, vielleicht um diesen Umstand zu kompensieren, mit einer Frechheit, die ich nicht von mir erwartet hätte und die ich keinesfalls billigen kann, ein „Ich nehm’ sie!“ in die Runde.

Es handelt sich um einen Preis, den man nicht treffender bezeichnen kann als mit dem Adjektiv „erheblich“. Der Steuerberater schaut mich überrascht an, die anderen schweigen vor Verblüffung, nur der Holländer erhebt sofort Einspruch: „Unmöglich! Ich war früher da, ich warte hier seit acht Uhr!“

Natürlich, ich werde, eine Entschuldigung vorbringend, ihm umgehend den Vortritt lassen, es ist eine Frage der Gerechtigkeit, selbst wenn die Chronologie keinen Rechtsanspruch begründen sollte; ich bin ein höflicher Mensch, es gibt Grenzen, die überschreitet man nicht ungestraft von sich. Stattdessen sehe ich eine mir fremde Person mit stummer Entschlossenheit in die Tasche greifen, das Portemonnaie fassen, den Holländer keines Blickes und keines Wortes würdigend, den Steuerberater enternd. Diese fremde Person bin ich.

An solchen Typen geht Wagner zufolge die Welt unter. Geld und Macht statt Liebe und Rücksicht! In der ersten Pause des zweiten Abends der „Ring“-Apokalypse ist der Holländer immer noch da, das Schild vor der Brust. Auch in der zweiten Pause vier Stunden später harrt er noch aus. Ich wende mich schnell ab.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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