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Wagner-Jahr: Der Opernmaler

Seine Inszenierung des „Rings“ hat schon Los Angeles ins Wagner-Fieber versetzt. Vier Teile, 16 Stunden. Alles hat Achim Freyer selbst gemacht, von der Regie bis zur letzten Rüsche. Wie jetzt in Mannheim. Und 20 „Ringe“ fühlt er noch in sich. Ausgerechnet, Brechts Meisterschüler.

Es gab noch nie einen „Ring“ in Los Angeles. Intendant Placido Domingo gedachte das zu ändern. Gleich nebenan liegt der Ort mit den größten Regisseursvorkommen der Welt pro Quadratmeter. Vielleicht hatte jemand Zeit und Lust?

„Star Wars“-Schöpfer George Lucas erkannte seine Aufgabe sofort. War Wagners „Ring des Nibelungen“ nicht „Star Wars“, bloß ohne Weltraum, und für die special effects war nur die Musik verantwortlich? Wobei „Star Wars“ wiederum – auch dessen war sich George Lucas bewusst – ohne Zweifel zum Genre der Oper zählt, zur Space-Opera eben. Ja, natürlich musste er das machen! Lucas berechnete, was er unbedingt brauchte. 60 Millionen Dollar? 60 Millionen Dollar!

Und dann stand ein anderer im Jubel, einer, dessen Namen bisher keiner kannte in LA und der nun in aller Munde war: Achim Freyer! Er hat für die Hälfte alles gemacht, Regie, Bühne, Licht, Kostüme. Vier Teile. 16 Stunden. Ein Gesamtkunstwerker wie Wagner selbst. Los Angeles geriet ins Wagner-Fieber. Oder war es das Freyer-Fieber?

Who, the fuck, is Achim Freyer?

Who, the fuck, is George Lucas? Der Gefeierte wusste es wirklich nicht. Er hatte sogar Lucas’ Leuchtschwerter aus dem Geiste Wotans und der Helligkeit LAs neuerfunden, ohne seinen Vorgänger zu kennen. Er wusste auch nicht, neben wem er da eine Premierenfeier lang gesessen hatte: Es war Jack Nicholson. Nie gesehen. Und wer bloß war dieser Enthusiast, der ihn zum größten Künstler aller Zeiten erklärte? Quentin Tarantino stand vor ihm, unerkannt. Taran… was? - „Ich habe doch keine Ahnung vom Kino“, sagt der Gesamtkunstwerker unter Genieverdacht heute und hat dieses unvergleichliche Achim-Freyer-Lächeln im Gesicht, gut versteckt in einem grauen Bart, den er schon immer trug: ein wenig defensiv, sehr hintergründig, wie um Nachsicht bittend und doch ungemein selbstgewiss. Vielleicht muss man in der DDR aufgewachsen sein, um so lachen zu lernen. Gleichsam hinter dem Rücken der Macht, notfalls ihr auch mitten ins Gesicht. Vor allem aber: leise.

Jetzt ist er schon einen „Ring“ weiter. Von LA nach Mannheim! Wieder hat er alles selbst gemacht. Von der Regie bis zur letzten Rüsche am Kleid, aber völlig neu, völlig anders. „Die Götterdämmerung“, der letzte Teil des „Ring“ hatte eben erst Premiere. Freyer malt Wagner! Mit dickem Pinsel und feinem Strich, in allen Farben. Dabei war sein Weg zu dem bestbeargwöhnten Genie Richard Wagner besonders weit.

Brecht und Wagner? Undenkbar. Für Brecht. Für seinen Schüler nicht.

Freyer wohnt in Berlin-Lichterfelde. Man ahnt sofort, welche Villa ihm gehört. Der Ehrgeiz des Lichterfelders geht in diesen Tagen dahin, in seinem Vorgarten doppelt so viel Frühling einzufangen wie der Nachbar. Die Vögel lärmen von Haus zu Haus mehr. Nur vor seiner Villa ist es plötzlich still, da wächst auch fast nichts, statt dessen windet sich eine riesige Metallspirale aus der Erde, nach oben hin immer weiter, immer freier ausschwingend. Was für eine Metapher des Lebens, des ungebremsten, des strömenden Lebens, wie es sein sollte!

Aber so ist es nicht. Fast nie. Und nur ein Umstand kann diesen Befund mildern: die Kunst. Dieses Wissen eint Achim Freyer mit Richard Wagner.

Hätten wir das Leben – wir hätten keine Kunst. Wir hätten sie nicht einmal nötig, hat der Komponist des „Ring“ gesagt. Freyer formuliert denselben Sachverhalt so: Wir haben keine Mitte!

Der Mensch ist das einzige Lebewesen ohne natürlichen Halt im Dasein. In der Kunst versucht er, ein Notgleichgewicht herzustellen. Sie ist sein Spiegel. Wir sehen uns darin nicht 1:1, sondern größer oder kleiner und vor allem: Wir sehen uns nicht von außen, sondern wie von innen, sagt Freyer und beweist es mit jedem Werk neu.

Niemandem hat der Gesamtkünstler Freyer so misstraut wie dem Gesamtkünstler Wagner. Denn er war links. Spätestens von dem Tag an, als er, der junge Gebrauchsgrafiker und Mitgründer einer Schulband „gegen alles“ vor Bertolt Brecht stand: Er wolle seine Schaffenskraft dessen Institut zur Verfügung stellen. Vorbehaltlos. Rücksichtslos.

Der Zwanzigjährige hatte die „Mutter Courage“ gesehen. Er hatte zum ersten Mal verstanden, was Theater ist, was es sein kann. Ja, wenn die Plakate des BE erst genauso gut wären wie seine Stücke! Aber das sagte er dem großen Theatermann wohl nicht. Es war schon damals die Mischung aus Scheu und Überheblichkeit, die so oft den wahren Künstler verrät. Und vielleicht könne er ein wenig zuschauen, wie ein Bühnenbild entsteht? Kurz darauf fand sich der junge Plakatmaler als Brechts Meisterschüler wieder. Brecht und Wagner? Undenkbar. Für Brecht. „Ich glaube, er unterstellte ihm Pathos“, sagt Freyer. Und war Wagners Nibelheim, diese riesige unterirdische Zwergenschmiede, nicht eine Verhöhnung der revolutionären Arbeiterklasse? Freyer wird das noch lange glauben.

Und dann war Brecht tot. Sein Meisterschüler malte surrealistisch-kubistische Werke, die er mit Titeln wie „Die Kreuzigung der Menschheit“ versah. Er nummerierte Steine am Ostseestrand, einerseits, um hier endlich System hineinzubringen, andererseits, weil sie ihm wohl genauso konformistisch-grau-gesichtslos schienen wie das Staatsvolk, das die DDR sich so sehr wünschte. Er beobachtete Mädchen am Müggelsee, die alle die gleichen Badeanzüge trugen, allerdings in vier verschiedenen Farben. Die sozialistische Produktion hatte die Plankennziffer für Schwimmbekleidung erfüllt, und Freyers Sinn fürs Serielle war alarmiert: Norm und Abweichung von der Norm! Ordnung und Störung der Ordnung! Er besetzte eine blaue Limousine mit schwarzen und roten Nacktschnecken. Die Kunst lebt! Sie schreitet voran, nein, sie kroch voran und hinterließ bedenkliche Spuren auf dem Autolack. Man hätte damals ahnen können, dass sie sich nicht vertragen würden, Freyer und die DDR.

Ich bin Maler!, wusste er inzwischen. Ja, schon, antwortete die Regisseurin Ruth Berghaus, aber doch nicht die ganze Zeit! Kannst du nicht ein paar Bühnenbilder für mich machen? So kam er zur Oper, zur Staatsoper Unter den Linden. Das war 1959. „Der Barbier von Sevilla wird heute noch in meinem Bühnenbild gespielt“, sagt Freyer. Der Gedanke tut ihm wohl.

Trägt er alles, was Menschen je geschaut haben, in seinem Kopf.

Der „Barbier“ war sein erster Skandal. Vollkommen weiße Bühne. Vollkommen weißer Barbier. Nur die anderen Figuren waren bunt. Damals hat Freyer wohl zum ersten Mal gespürt, was Zuschauerwut ist. Doch er beharrte: „Der Barbier ist weiß. Der Barbier bleibt weiß.“

Mozart ja. Mozart immer wieder. Allein sechs Zauberflöten hat er bis heute gemacht. Aber Wagner? „Irgendwann habe ich mal das Rheingold-Vorspiel gehört, diese ungeheure Klangwoge, diesen Weltanfangsfrieden, aus dem plötzlich die Rheintöchter auftauchen“, sagt Freyer. Auf die Erotik dieses Augenblicks sei er nicht gefasst gewesen. Sie erschreckte ihn. Er habe vorsichtshalber nicht weiter gehört.

Und was für Bilder Freyer nun gefunden hat, in LA und in Mannheim ganz verschiedene. Wagner nannte sein „Rheingold“, diese Geschichte eines Unterwassersündenfalls, einmal das „Wiegenlied der Welt“. Nach der Uraufführung 1869 meinte ein Kritiker, direkt in ein „Hurenaquarium“ geschaut zu haben. In Los Angeles wachsen die Oberkörper der Nymphen mitten aus den grünen Fluten eines riesigen Tuchs empor, aber jede doppelt, nach oben und nach unten, spiegelbildlich wie die Figuren auf einer Spielkarte. Welch einfache und doch geniale Idee, den Status dieser Zwischenwesen zu bestimmen, die nicht mehr Tier und noch nicht Mensch sind. Und ihr Leib ist so weit wie der Fluss. In Mannheim aber schweben sie schwarz-weiß auf Luftwasserschaukeln, mit ungeheuren surrealen Schwänzen, die an alles erinnern, nur an das Nächstliegende nicht: an Fischflossen. Andere haben Einfälle. Freyer denkt in Bildern wie Wagner in Noten.

Wie kann jemand aus einem so schier unendlichen Archiv schöpfen, als trage er alles, was Menschen je geschaut haben, in seinem Kopf? Er führt durch die Zimmer seines Hauses wie durch ein Museum. Die Wände sind voller Bilder, sie hängen dicht an dicht, auch auf den Fluren, überall. Kleine und große Werke kleiner und großer Meister, die klingendsten Namen des vergangenen Jahrhunderts darunter, aber an seinen Wänden haben sie Nachbarn, die niemand kennt: Straßenkunst. Er hat sie schon immer gesammelt. Achim Freyers Bühnenweltinnenräume haben mitunter dieselbe Wirkung, sie verbinden scheinbar Ephemeres und das vermeintlich Zentrale. Wagner-Hörer kennen den Widerspruch von naher Ferne, von Abstoßung in der Anziehung: Es ist, als ob man in seiner eigentlichen Heimat gewesen wäre.

Was ist Heimat?

Konnte ein Land wie die DDR, in dem fast jedes seiner Bühnenbilder Anstoß erregte, Heimat sein? 1970 hatte er Goethes „Clavigo“ von der Tapete bis zu den Figuren mit Stoffen und Mustern aus der aktuellen volkseigenen Produktion bekleidet und besonders auf die schichtspezifischen Vorlieben geachtet: DDR-Rokoko. Der Intendant des Deutschen Theaters tobte. Abgesetzt! Alles noch einmal! Und bitte mit einem anderen Raumausstatter! Aber jeder sagte: Besser als der Freyer kann ich das nicht! Also fing er noch einmal von vorn an. Diesmal machte er alles schwarz-weiß.

Und im „Guten Menschen vom Sezuan“, ein Jahr später an Benno Bessons Volksbühne, trugen alle ihre Kleider linksrum. Als ob die Menschen je so viel Mut hätten, offen ihre Nahtstellen herzuzeigen! Der „Gute Mensch“ ging auf Tournee durch Italien. Raus aus der zugenähten Welt! Er müsse noch viel mehr Kunst anschauen, sagte Freyer seinen Kollegen und drückte ihnen seinen schweren, viel zu schweren Koffer in die Hand. Als Unterpfand seiner Wiederkehr.

Am Anfang war da durchaus eine unwillkürliche Furcht vor Geiselnahme.

Warten auf Achim Freyer. Aber der Linksrum-Mann kam nicht. Irgendwann schauten die Kofferträger ins Innere des Schwergewichts, das sie durch Italien getragen hatten. Es war voller Hotelbibeln.

Da stand er schon am Kölner Dom. Freyer hatte plötzlich so eine große Angst gefühlt, er könne die Welt verpassen und die Welt ihn. „Aber die linken Regisseure der großen westdeutschen Schauspielbühnen sahen mich an wie einen, der sich im Zimmer geirrt hat“, erinnert sich Freyer. Man fliehe nicht aus der besseren Hälfte Deutschlands! Nein, für so einen hatten sie keine Arbeit. Und er brauchte dringend 90 000 D-Mark. Denn dafür, hatten ihm deutsch-deutsche Schattenmänner versichert, würde die DDR auch seine Frau und die Töchter gehen lassen. Er borgte sich das Geld. Die Linken nahmen Zinsen – wegen Untreue gegen die Weltrevolution –, die Rechten nahmen keine. Arbeitslos mit einem 90 000er-Kredit, und dann noch in Westmark! Freyer wurde schwarz vor Augen.

Wieder begann sein neues Leben mit der Oper. Genauer, mit dem Kölner Intendanten Hans Neugebauer, der ihn ungläubig fragte, ob er wirklich er selbst sei: Der Freyer, der in Ost-Berlin damals den Barbier von Sevilla gemacht habe?

In den nächsten Jahrzehnten arbeitete er sich durch die ganze Operngeschichte. Nur einen ließ er immer aus: Wagner. Lieber nicht, sagte er auf jedes neue Angebot. Freyer ging es wie den meisten Wagner-Anfängern. Da war eine unwillkürliche Furcht vor Geiselnahme. Heute sagt er: „Wer diese Musik als gewalttätig empfindet, hat ihre Bezüge, ihren Inhalt nicht verstanden.“ Als ihm die Brüsseler Oper Anfang der Neunziger den „Tristan“ nahelegte, kapitulierte er, ließ sich einfangen von diesem Weltunter- als Weltaufgang.

Regie führen heißt, Stücke in die Welt tragen, weiß er. Und kein Stück gehört nach Freyer dringender dorthin als der „Ring“, Wagners größtes Werk. Ausfahrt und Heimkehr: Es sind die beiden großen Pole des Menschenlebens, und es sind die Grundgesten der Musik. Plötzlich begriff der Gesamtkunstwerker Freyer den Gesamtkunstwerker Wagner, erkannte denselben Ehrgeiz, alle Künste zu äußerster Wirksamkeit in einem Geist zu bringen: „Das für Opulenz zu halten, ist ein Missverständnis.“

Als er hörte, dass ein bekannter Filmregisseur – „Wer war das bloß?“ – den „Ring“ in Bayreuth abgesagt hatte, schrieb er einen Brief nach Oberfranken. Falls sie einen Ersatz suchten, da sei er! „Ich habe nie eine Antwort bekommen“, sagt er, das spezifische Achim-Freyer-Lächeln spielt um seinen Mund. Also LA statt Bayreuth. 2018 soll sein „Ring“ dort wieder aufgenommen werden. Eine tiefe Skepsis legt sich auf sein Gesicht: „So wie er ist? Ich glaube, 2018 würde ich alles ganz anders machen.“ 20 „Ringe“ fühle er noch in sich, ungefähr. Im nächsten Jahr wird er 80 Jahre alt.

Beim Hinausgehen fällt der Blick auf das große Krokodil an der Hauswand, gleich hinter der Freiheitsspirale. Es trägt das Maul weit offen, aber auf seiner Spitze steht ein kleiner Vogel. Zum Fressen nah und doch unerreichbar für die Echsenzähne. Das ist, wenn er Glück hat, die Stellung des Künstlers in der Welt.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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