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Wagner-Werkstatt (5): Der Dirigent in der Sperrholzkiste

Das gab's noch nie: Eine Journalistin, die in Wagners Allerheiligstes vorgelassen wird und dort die nächsten sechs Wochen zubringen darf. Diesmal lauscht Christine Lemke-Matwey der Orchesterprobe im Restaurant und schaut Dirigent Andris Nelsons beim Flirten und Schwitzen zu.

Von Chor und Orchester war an dieser Stelle bereits die Rede. Der Chor der Bayreuther Festspiele probiert, wie es sich für einen seriösen Klangkörper gehört, im Chorsaal. Das ist, wenn man sich vom Kantinengarten aus mehr nach links hält, ein funktionaler Pavillon, alles bestens. Das Orchester der Bayreuther Festspiele hingegen arbeitet, so will es die Legende und so entspricht es der Wahrheit, im Festspielrestaurant. Essen, sagt der „Lohengrin“-Dirigent Andris Nelsons, sei Nahrung für die Seele. Reispudding mit Kirschsauce liebt er besonders.

Das heißt: Wo im Sommer in den Wagner-Pausen die Schampusflaschen kreisen, sitzt jetzt das Orchester. Orchestersitzprobe nennt sich das folgerichtig, und damit etwaige hohe Musikerinnenabsätze oder die Stachel der Celli das Parkett nicht zerkratzen, hat man am Boden diverse Läufer ausgelegt. Schön ist das nicht. Den Dirigenten, damit er in diesem anti-akustischen Raum überhaupt etwas hört, stellt man in eine Sperrholzkiste, von der Galerie hängen fusselige Akustikmatten, und wo es irgend geht, stehen spanische Wände, um den ausbrechenden Schall wieder einzufangen. Mit den Verhältnissen, wie sie später im Orchestergraben herrschen werden, in Richard Wagners „mystischem Abgrund“, hat das alles rein gar nichts zu tun. Aber die Aura von Bayreuth lebt nicht zuletzt vom Handgestrickten, von genau solchen kleineren und größeren Zumutungen.

Nicht einfach für die Musiker. Und nicht einfach für die Zuhörer oben auf der Galerie, denen die Musik regelrecht in die Ohren gestopft wird, so direkt ist der Klang. Und gar nicht einfach für Andris Nelsons, den Debütanten. Das fängt damit an, dass auf der Galerie nicht irgendwer sitzt, eben nicht nur eine arglose Reporterin, sondern die Crème der Kollegenschaft und Konkurrenz: Der amtierende „Ring“-Dirigent Christian Thielemann in seinem letzten Jahr, Sebastian Weigle („Meistersinger“) und Kirill Petrenko, Ex-Chef der Komischen Oper, der 2013 auf dem Grünen Hügel den Jubiläums-„Ring“ leiten wird (dann feiert Richard Wagner seinen 200. Geburtstag). Und da soll man nicht nervös werden?

Nelsons ist nervös – und tritt, wie es seinem musikalischen Naturell entspricht, die Flucht nach vorn an. Die Szene erinnert an ein Video aus den Siebzigerjahren, Carlos Kleiber probt die „Freischütz“-Ouvertüre, die Herren vom Orchester des Süddeutschen Rundfunks sitzen da wie beim Fortbildungsseminar für Versicherungsangestellte, Krawatten, Kassenbrillengestelle, steinerne Mienen – und der junge Dirigent vorne am Pult buhlt um ihre Gunst, als ginge es um sein Leben, tanzt, flirtet, zärtelt, katzbuckelt, wirbt. Ganz so arg ist es bei Nelsons in Bayreuth nicht, aber ein paar der erfahrenen Bayreuthianer werden sich schon gedacht haben, na, mal gucken, was er wirklich kann, der Jungspund mit dem Ruf wie Donnerhall und der voluminösen Gestik. Zwei T-Shirts mindestens verschleißt Nelsons während einer Probe. Dirigieren ist Körperarbeit.

Und der Lette kann viel, das begreift an diesem ersten Sitzprobenmorgen jeder im Raum. Toscanini habe gesagt, es gäbe keine guten oder schlechten Orchester, sondern nur gute oder schlechte Dirigenten, flüstert der „Lohengrin“-Inspizient mir zu. „Und das hier ist ein gutes Orchester.“ Wobei Nelsons sicher viel charmanter und umgänglicher ist, als Arturo Toscanini, der ätzende Pult-Diktator, es gewesen sein muss. Es dauert keine Viertelstunde, da hat Nelsons die Musikerherzen gewonnen, die meisten jedenfalls: Mit seiner sprudelnden Freude an der Musik, mit seiner Hingabe noch an die kleinste Regung der Partitur. Und mit seiner Fantasie, seinem Denken in Bildern. Spielen Sie, als wäre Ihnen übel, ruft er den Musikern zu. Oder, bei der Ankunft Lohengrins im ersten Akt: „Das haben wir selten: Mann mit Schwan! Herz macht bumm bumm bumm!“

Arturo Toscanini war zwei Sommer lang in Bayreuth, 1930 und 1931. Dann kamen in Deutschland die Nazis an die Macht, mit denen wollte er nichts zu tun haben. Carlos Kleiber hat es Mitte der 70er immerhin auf drei Sommer gebracht, damals regierte in Bayern Alfons Goppel. Beider Konterfeis, das Kleibersche und das Toscaninische, hängen in der „Verbrecher-Galerie“, jenem schlauchartigen Gang, der vom Bühnenhaus hinüber auf die Ostseite des Geländes führt. Jeder neue Festspieldirigent wird hier so verewigt, Jahr für Jahr, das heißt, am Ende des Sommers klebt man sein Foto auf ein schwarzes Stück Pappe und haut einen Nagel in die Wand. Auch Andris Nelsons wird hier hängen – exakt gegenüber von Hermann Levi übrigens, Anno 1882. Bei dem Gedanken, sagt der Debütant, werde ihm schon jetzt ganz übel.

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