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Christine Lemke-Matwey

© Jörg Schulze

Wagner-Werkstatt (9): Erst die Meistersinger, dann das Halbfinale

Das gab's noch nie: Eine Journalistin, die in Wagners Allerheiligstes vorgelassen wird und dort sechs Wochen zubringen darf. Diesmal lauscht Christine Lemke-Matwey dem Klang der ersten Geige und freut sich über WM-kompatible Probenpläne.

Gestern waren ein paar Kollegen zu Besuch auf dem Grünen Hügel, vom Fernsehen, vom Radio, von der Konkurrenz. Mit Tagesausweisen im DinA4-Format (wie man sie alleinreisenden Kindern im Flugzeug umhängt) und großen Augen und Ohren stolperten sie über das Gelände, guckten ein Stück „Lohengrin“-Probe und schnappten anschließend nach allem, was halbwegs interviewwillig oder –fähig aussah. Natürlich übertreibe ich jetzt. Aber irgendwie hat mich dieser Einbruch der Realität gestört. Überhaupt bin ich dafür, die diesjährigen Festspiele für die Öffentlichkeit zu sperren. Betrachten Sie es als kreative Verschnaufpause, meine Damen und Herren Wagnerianer, werte Kollegen, auch für sich selbst, als Phase seliger Einkehr und Heimkehr, Jogis Superjungs müssen schließlich auch nicht täglich ran. Und wir hätten hier weiter unsere wunderbare Wagnerruhe und -contemplatio.

Der alte Richard jedenfalls wusste, dass man sich rar machen muss, um einzigartig zu sein (oder zu bleiben). Schon als er in den 1850er Jahren im schweizerischen Exil an „Siegfrieds Tod“ arbeitete, einem Vorläufer des „Rings“, hatte er die Vision, das eigens für diese Oper gebaute Opernhaus nach drei Vorstellungen wieder abzureißen und die Partitur zu verbrennen. Die Bayreuther Festspiele, wie sie heute existieren, sind von dieser Ur-Idee in jeder Beziehung das nackte Gegenteil. Trotzdem wird der Anspruch ans Einzigartige, Exklusive, Extraordinäre, Extraterrestrische hoch, hoch, hoch gehalten. Oder um Wolfgang Wagner zu zitieren: Wer die Wahrheit sagt, nichts als die Wahrheit, den hält alle Welt sowieso für verrückt.

Das weiß ich natürlich nicht von Wolfgang Wagner (der redete ja nicht mit der Presse, hach, wie sich die Zeiten ändern!), sondern von Christian Thielemann. Der Berliner fühlt sich hier wie immer sichtlich glänzend, auch wenn dies sein vorläufig letztes „Ring“-Jahr ist und er 2011 erstmals seit 11 Sommern nicht auf dem Grünen Hügel vertreten sein wird. Weiter geht es für ihn erst 2012 mit dem „Fliegenden Holländer“ und 2015 dann mit einem neuen „Tristan“, den Katharina Wagner inszenieren wird. Die junge Festspielleiterin habe ein paar bemerkenswerte Ideen, sagt Thielemann. Was man so oder so verstehen kann.

Vor zehn Tagen etwa – erster Akt „Siegfried“ mit Klavier – bin ich einmal bei ihm im Graben gesessen. Und zwar nicht da, wo sich die Grabenhörer sonst aufhalten, zuunterst, zuhinterst hinterm schweren Blech, sondern oben am ersten Pult der zweiten Geigen. Die findet man in Bayreuth vom Dirigenten aus links – also da, wo normalerweise und im Rest der Musikwelt die ersten Geigen geigen. Muss auf dem Grünen Hügel denn alles anders sein? Ja, es muss. Zumal die Begründung für den Geigentausch ganz simpel ist und wirklich Sinn macht: Die Geige hält man bekanntlich mit der linken Hand, das heißt, die F-Löcher, aus denen der Schall dringt, zeigen in actu nach rechts. Da beide Geigengruppen nun ziemlich hoch unter dem Deckel des „mystischen Abgrunds“ sitzen, fristet der Schall der vom Dirigenten aus links sitzenden Streicher ein eher kümmerliches Dasein: Er prallt gegen den Deckel, reflektiert und kommt zu seinem Urheber zurück. Jedes großartigere sich Mischen und Vermischen mit anderen Instrumenten kann man vergessen. Und da auch bei Wagner die erste Geige die erste Geige spielt, die Melodie- und Führungsstimme, den cantus firmus, hat der alte Fuchs sie kurzerhand rechts vom Dirigenten platziert, von wo aus sich ihre Sinnlichkeit zunächst wie ein glitzerndes Netz über den Graben spannt, um sodann von den aus der Tiefe des Raums schießenden Klangmassen erfasst, den Sängern auf der Bühne zu Füßen gespült und schließlich dem Publikum im Saal in den betörendsten Legierungen und Nuancen ins Herz gesenkt zu werden. Schon alles sehr schlau, grandios schlau. Und wirkt bis heute.

In Thielemanns „Siegfried“-Partitur übrigens findet sich kein einziger Bleistiftstrich, nicht das kleinste Ausrufezeichen, ganz jungfräulich. Andris Nelsons „Lohengrin“-Partitur hingegen sieht aus, als habe er gerade eine böse Klassenarbeit zurückbekommen. Aber das ist ein anderes Thema. Wenn hier außerdem in den vergangenen acht Folgen der Eindruck entstanden sein sollte, die Festspiele seien so etwas wie die weltweit einzig verbliebene WM-freie Zone, ein gallisches Wagner-Dorf, so täuscht dieser Eindruck. Nein, das Halbfinale mit deutscher Beteiligung wird nicht auf der Bühne übertragen, fast hätte das Pressebüro eine Erklärung herausgegeben, so häuften sich zuletzt die Anfragen. Aber der Probenplan, der verheißt doch einigen Freigang: Das „Lohengrin“-Team übt mit der Statisterie, die Bühnenorchesterprobe für den zweiten Akt „Götterdämmerung“ beginnt bereits um 17 Uhr, und die „Meistersinger“ sind auch um 20 Uhr fertig. Und selbst Denise von der Pforte West – sehr hübsch, sehr blond, spielt selber Fußball – hat Glück: Eva Wagner-Pasquier wird eigens ihren Fernseher einschalten und ihre Festspielleiterinnentür öffnen. Dann kann Denise immer ein bisschen um die Ecke linsen. Und das Telefon klingelt ohnehin frühestens um 22.16 Uhr wieder.

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