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Kranke Heimat. Simin (Leila Hatami) sorgt sich um die Zukunft.

© Berlinale

Berlinale: Wahrheit in der Lüge

Ausreisewunsch einer Iranerin: Asghar Farhadis "Jodaeye Nader az Simin" ist der erste große Bären-Favorit.

Diese Berlinale wird Geschichte machen, als die iranische Berlinale. Sie ist auf ihre Weise Bestandteil der großen Geschichte, die die Welt in diesen Wochen in Atem hält, der Geschichte der größten Freiheitsbewegung seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme, der Geschichte des islamischen Aufbruchs in die Moderne.

Das Festival hat mit dem Brief ihres an der Reise gehinderten Jurors Jafar Panahi begonnen – einem emphatischen Freiheitsbekenntnis, das tief in den Alltag des Festivals nachwirkt. Es wird dramatisch überstrahlt vom Sturz des ägyptischen Diktators Mubaraks und von neuen Protesten der Iraner gegen das nun auch schon 32 Jahre währende Regime der Mullahs. Und sie endet wahrscheinlich mit einem Goldenen Bären für einen iranischen Film: „Jodaeye Nader az Simin“ von Asghar Farhadi.

Das wäre eine politische Entscheidung, werden manche meinen, ein Ermutigungspreis stellvertretend für Jafar Panahi und den geknechteten Iran. Und es wäre doch vor allem eine ästhetische Entscheidung, denn der Film ist so brisant wie brillant. Die alltägliche Geschichte um zwei Familien, eine aus dem Mittelstand und eine aus ärmeren Verhältnissen, erzählt von Moral und Verantwortung, religionsgeprägter Tradition und rational gesteuerter Moderne, gesellschaftlichem Rollenverständnis und individuellem Mut. In einem stets geerdeten, kompliziert verflochtenen und sich wandelnden Konfliktfeld bietet der Film, Zeichen seiner hohen dramaturgischen Subtilität, dem Zuschauer schwindelerregend viele Identifikationsmöglichkeiten. Und, das Wichtigste: So wie Regisseur Asghar Farhadi auf das simple Gut-Böse-Schema verzichtet, so lässt er simple Antworten beiseite. „Das Publikum soll das Kino mit Fragen verlassen“, sagt er. „Ich glaube, die Welt heutzutage braucht eher Fragen als Antworten.“

Schon das ist ein Bekenntnis zur Moderne – in einem Staat, dessen Machthaber unerschütterlich Antworten parat haben, und seien sie noch so absurd. Und ein ebensolches Bekenntnis ist, wenn in der ersten, bereits aufwühlenden Szene die moderne Mittelstands-Iranerin Simin (Leila Hatami) den Ausreisewunsch der Familie damit begründet, ihre elfjährige Tochter Termeh (Sarina Farhadi) solle nicht weiter aufwachsen „unter diesen Bedingungen“. Dass es dann doch nicht dazu kommt, weil ihr Mann Nader (Peyman Moadi) seinen an Alzheimer erkrankten Vater nicht im Stich lassen will – ist das Nader zu verübeln?

Die erste große Frage, die sich im Kleinen spiegelt – Was gilt mehr, die politische Hoffnung oder das individuelle Zurückstehen, die Zukunft der Tochter oder die dringende Fürsorge für den Vater? – wird immerhin beantwortet. Nader und Simin trennen sich. Termeh bleibt beim Vater, Simin geht nicht allein ins Ausland. Bald aber stellt Nader zur Versorgung des Vaters die Pflegerin Razieh (Sareh Bayat) ein und die Verhältnisse werden unübersichtlich.

Denn Razieh hat ihrem jähzornigen, arbeitslosen und überdies verschuldeten Mann Hodjat (Shahab Hosseini) verschwiegen, dass sie etwas hinzuverdient. Schließlich darf sie, so wollen es die Regeln im Iran, ohne Zustimmung ihre Mannes nicht arbeiten gehen. Als sie eines Nachmittags wegen eines Arztbesuchs den Alzheimer-Kranken allein lässt und Nader den Vater nach einem Sturz aus dem Bett bewusstlos vorfindet, kommt es zum Eklat. Nader kündigt der zurückgekehrten Razieh aufgebracht und stößt sie unsanft aus der Wohnung. Anderntags verliert die im vierten Monat schwangere Razieh ihr Kind.

Hat Nader von der Schwangerschaft der gottesfürchtigen, stets in einen Chador gehüllten Raziel nichts geahnt, wie er behauptet – oder wusste er davon, weshalb er nun womöglich wegen Mordversuchs für Jahre ins Gefängnis muss? Raziels rabiater Mann drängt mit Schlägen und Kopfnüssen auf diese Lösung; es sei denn, der Mittelklasse-Mann Nader lässt eine Summe springen, mit der sich die Gläubiger besänftigen lassen. Nader dagegen besteht auf dem Beweis dafür, dass das Gerangel im Hausflur die Fehlgeburt Raziehs verursacht hat. Wer weiß die Wahrheit, wer verschweigt sie, wer rückt sie wann wem gegenüber und wie heraus? Und: Gibt es überhaupt eine Wahrheit oder nicht vielmehr viele respektable und auch nachfühlbare Interessen?

Den Ausweg aus allen Finten, mehr oder weniger moralischen Notlügen und privaten Beichten bei aller öffentlicher Unbeugsamkeit suchen und finden dann die Frauen – wobei deren Töchter entscheidend zur Wahrheitsfindung beitragen. Am Ende ist es auch nicht die iranische Gerichtsbarkeit, vor der sich die heftig streitenden Parteien immer wieder von neuem ohne Anwalt versammeln und die das entscheidende Geständnis erzwingt, sondern ein Schwur auf den Koran. Ein dramaturgischer Coup für die einen, ein zwingendes moralisches Gebot für die andere Seite.

Allah als der allerhöchste Richter: Das könnte den Zensoren so gefallen. Sie hätten dann allerdings übersehen, welch zutiefst humanem Film sie da zugestimmt haben – einen Film, der der individuellen Vernunft und nicht der Befolgung gesellschaftlicher Regeln das Wort redet und der, wenn Farhadis Hoffnung nicht trügt, demnächst in 50 iranischen Kinos läuft. Nader und Simin, in einer grandiosen Schlussszene gemeinsam im Bild, sind die unglücklichen Protagonisten der Moderne, Razieh und Hodjat die noch unglücklicheren Gefangenen der Tradition. Und Termeh, die am meisten weiß und am klügsten schweigt, muss ihren schweren Weg in die Zukunft suchen.

Bei der Pressekonferenz nach der umjubelten ersten Vorführung erweist sich das Team ganz auf der sensiblen, klugen Höhe des Films. Und Regisseur Asghar Farhadi wird nicht müde, die Journalisten darauf hinzuweisen, dass der Iran viel moderner sei, als man im Westen oft glaube. „Es gibt einen Kampf zwischen Neu und Alt,“ sagt er, und fügt leise hinzu: „Und das Land wird noch sehr dafür bezahlen.“ Möge die große Umwälzung, zu der der Iran nach dem gescheiterten Aufstand von 2009 nun einen neuen Anlauf macht, so unblutig wie unumkehrbar sein.

Heute 9. 30 (Friedrichstadtpalast) und 20 Uhr (Urania); 20. 2., 22.30 Uhr (Urania)

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