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Kultur: Walhalla der Verlorenen

Wer da unten? Jürgen Goschs Gorki-Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Minutenlang hustet sich die Schauspielerin Hedi Kriegeskotte die Seele aus dem Leib, wankt den langen Weg über die tiefe Bühne zum Klo, vorbei an der Kochstelle in der Mitte und den Schlafplätzen zu beiden Seiten. In einer mit Malerfolie abgehängten Ecke lüftet sie ihr graues Krankenhemd, unter dem sie nackt ist, aus einem Lautsprecher dringt Uringeplätscher. Unter fürchterlichem Bellen schleppt sie sich zurück zu ihrem Lager, während ein anderer Lumpenhaufen lebendig wird und dem Abort zustrebt. Von gegenüber fliegt ein Backstein. Doch auch der bringt die Tuberkulöse nicht zum Verstummen.

Jürgen Gosch hat es also geschafft, sein Publikum in die richtige Stimmung zu versetzen für Gorkis „Nachtasyl“, dessen Übersetzung Angela Schanelec noch einmal eingreifend überarbeitet hat. Radikaler, heutiger ist es dadurch geworden. Und im geänderten Titel „Unten“ signalisiert es Sympathie mit dem Dramatiker, der schon damals, 1902, als er an Stanislawskis Künstlertheater die Uraufführung feierte, den Titel ändern wollte, um nicht ganz so offensichtlich zu zeigen, dass seine Helden nun nicht mehr die gehobenen Stände waren, sondern der proletarische Abschaum der russischen Gesellschaft: Diebe, Huren, Mörder, Spieler, Säufer und Betrüger. Doch was das „Nachtasyl“ bis heute zu seinem meistgespielten Stück macht, ist wohl weniger die Sozialkritik darin als das moralische Vakuum, die auf kein Ziel gerichtete, hoffnungslose Wirklichkeit. Abgesehen davon ist es ein Fest für die Schauspieler.

Jürgen Gosch, der am Deutschen Theater Berlin zuletzt Roland Schimmelpfennigs „Greifswalder Straße“ inszenierte, ist ein Chamäleon der Regie. Mit seinem skandalisierten Düsseldorfer „Macbeth“ und seinen „Drei Schwestern“ aus Hannover ist er in diesem Mai zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Wenn Gosch sich vornimmt, das Publikum mit einer unangenehmen Realität zu konfrontieren, die einem an jeder großstädtischen Unterführung, Fußgängerzone und öffentlichen Grünfläche begegnet, dann tut er das mit allen Mitteln der Kunst.

Die Gestrauchelten und Gestrandeten, die sich hier in der Notunterkunft versammeln, quälen einander, weil sie sonst niemanden haben, und drängen uns dennoch ihre Geschichten auf: die zum Sterben verurteilte, hustende Anna mit ihrem Mann, dem prügelnden, arbeitslosen Schlosser (Martin Pawlowsky); der junge Stricher Aljoschka (Sören Wunderlich); der saufende Schauspieler (Lutz Salzmann), der sich am Ende erhängt; ein Mädchen (Maja Schöne), das mit Alkohol seine verkümmerten Gefühle anheizt; der korrupte Vermieter Kostyljew (Jürgen Uter) und seine zänkische Frau (Marion Breckwoldt); der schöne Dieb Pepel (Kai Schumann), der in einem Verschlag aus Pappe wohnen darf, weil er mit der Vermieterin ein Verhältnis hat und der am Ende ihren Mann umbringt.

Da wird geschrien, geprügelt und gedemütigt, was das Zeug hält. Da wird, in einer Ecke der spitzgiebligen Rigipshalle, in die Johannes Schütz die Bühne verwandelt hat, unter einer Kerze gebetet. Später taucht sogar ein tartarischer Muslim in diesem Walhalla der Verlorenen auf und versucht, sie zu bekehren.Und zu allem Überfluss lässt Gosch, wie schon öfters erprobt, das Licht im Zuschauerraum an: Hier kann keiner entfliehen, es sei denn in den Schlaf.

Die Konfrontation mit unserer Gleichgültigkeit gegenüber der Verelendung der Gesellschaft, wenn das denn die Absicht des Abends ist, gelingt aber nur zum Teil. Das mag daran liegen, dass Gosch einem Manko der Konsumgesellschaft aufsitzt: Das Krasse der meist anekdotischen Figuren weckt nur Interesse, solange es noch auffällt. Was im zweiten Teil der gut dreistündigen Inszenierung kaum mehr der Fall ist. Obwohl sich Johannes Schütz für den dritten Akt ein tolles Sinnbild für die Widrigkeiten des Lebens hat einfallen lassen: Die Schauspieler bauen über die ganze Bühnenfront eine undurchdringliche Reiserhecke auf, liegen ungemütlich in diesem pieksenden Haufen, stapfen herum wie der Storch im Salat, knacken Zweiglein für Zweiglein, hängen herum und bleiben drin hängen. So könnte das endlos gehen.

Hier findet sich die öde Brutstätte der Lebensbeichten, der mörderischen Umtriebe, der Lebensflucht. Da gibt es den Stammtischdisput über Wahrheit und Arbeit und die Apotheose des Menschen zwischen den Mördern Bubnow (Klaus Rodewald), Satin (Ernst Stötzner) und dem Pilger und falschen Heilsverkünder Luka (Rik van Uffelen). Irgendwann wird man freilich den Eindruck nicht los, dass hier Schauspieler Gruppentherapie spielen. Und dort „Unten“ nur einen Grund zum Weitermachen suchen.

Frauke Hartmann

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