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Wall Street-Besetzung: Aufstand der Ausgebildeten

Der globale Protest: Was die Demonstrationen in New York, Tel Aviv, Madrid und Kairo verbindet.

Dies ist eine Zeit der unerwarteten und sich immer weiter ausbreitenden Proteste. Was am „schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, in Stuttgart mit den Demonstrationen gegen den Neubau des Hauptbahnhofs begann, hat unter dem Stichwort „Bürgerprotest“ hierzulande zu einer ganz neuen Form der Aufmerksamkeit geführt. Dass es in einer wirtschaftlich so saturiert erscheinenden Großstadt zu einer derartig nachhaltigen Protestbewegung kam, war eine große Überraschung. Das allein hätte als Signal bereits gereicht. Doch was dann folgte, hat selbst professionellen Beobachtern den Atem verschlagen.

Im arabischen Raum haben Protestierende so lange aufbegehrt, bis sie ihre Regime zu Fall brachten und die Potentaten sich aus dem Staub machten. Auch wenn nicht immer ganz klar ist, ob sich ein Teil des alten Machtapparats – wie das Militär in Ägypten – mit den neuen Verhältnissen arrangiert hat, auch wenn die Konflikte etwa in Syrien und im Jemen anhalten und in bürgerkriegsähnliche Unruhen übergegangen sind, so haben die Proteste die politischen Verhältnisse in Nordafrika bereits jetzt nachhaltig verändert.

Dabei blieben die Impulse des Arabischen Frühlings keineswegs auf die Region beschränkt. Auch dies lässt einen staunen: Mit Spanien, Portugal und Frankreich haben die Proteste auf Länder übergegriffen, die politisch, kulturell und religiös völlig anders strukturiert sind. In den letzten Monaten ist überdies ein Land hinzugekommen, das historisch wie politisch ein Sonderfall ist und dessen bisherige Sicherheitsarchitektur infolge des Aufbruchs im arabischen Raum zunehmend wackelt: Israel. Auch dort gingen hunderttausende junger Leute vor allem aus der Mittelschicht auf die Straße.

Als wollte man alldem eine weitere Überraschung hinzufügen, ist in New York und anderen amerikanischen Großstädten wie Chicago, Washington und Los Angeles seit dem 17. September die Bewegung „Occupy Wall Street“ aktiv. Es sieht ganz so aus, als sei die enorme soziale und politische Protestwelle, die seit Monaten so viele Länder in Atem hält, nun im Epizentrum der Macht angekommen, in der Hauptstadt des internationalen Finanzkapitals.

So gering die Anzahl der Demonstranten im Zuccotti Park in Manhattan verglichen mit denen auf dem Tahrir-Platz in Kairo auch sein mag, so stark ist andererseits ihre symbolische Bedeutung. Mitten im New Yorker Finanzviertel, an der Pforte zur wichtigsten Börse der Welt, dem New York Stock Exchange, stellen sie die Macht der Banken infrage. Es ist beinahe so, als habe man die Gedenkfeiern für die Opfer vom 11. September 2001 abwarten wollen, um dann nur ein paar hundert Meter von Ground Zero entfernt in die Offensive zu gehen.

Wer sich die Webseite occupywallst.org anschaut, um sich mit dem eher minimalistisch anmutenden Selbstverständnis der Akteure vertraut zu machen, dem fallen drei Punkte auf. Die Aktivisten verstehen sich als führerlose Widerstandsbewegung, als Ausdruck der großen Mehrheit von „99 Prozent“, die mit den Worten des Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz nicht länger bereit seien, die Gier und Korruption des restlichen „1 Prozent“ zu tolerieren. Und sie verstehen sich – in ausdrücklicher Anlehnung an den „revolutionären arabischen Frühling“ – als Vertreter der Gewaltfreiheit. Vermutlich ist es gerade die programmatische Kargheit, die es Prominenten wie Susan Sarandon erleichtert, sich mit den Protesten zu solidarisieren.

Wer sich mit der Phänomenologie dieser an so unterschiedlichen Stellen des Globus entflammten Proteste vertraut zu machen beginnt, dem wird rasch klar: Auf einen gemeinsamen Nenner lassen sie sich nicht bringen. Warum sind diese energischen Proteste gerade jetzt ausgebrochen? Warum sind sie über den Atlantik gesprungen und haben nun auch das mächtigste Land der Welt erfasst? Und gibt es tatsächlich Gemeinsamkeiten?

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Sieht man einmal vom „Stuttgart 21“-Widerstand ab, dessen Protagonisten mehrheitlich zwischen 40 und 65 sind und die nicht aus materiellen Gründen auf die Straße gehen, dann gibt es etliche gemeinsame Faktoren. Die Demonstranten in New York, Tel Aviv oder Kairo sind jung, qualifiziert (in erheblichem Maße auch akademisch), zumeist jedoch ohne Arbeit und weitgehend perspektivlos. Eigentlich müssten sie – wie die „Indignados“ (die Empörten) an der Puerta del Sol in Madrid – als Kandidaten für die als Rückgrat jeglicher demokratischen Gesellschaftsordnung apostrophierten Mittelschichten gelten, als die Entscheidungsträger von morgen. Aber sie hängen ökonomisch und sozial in der Luft. Auf die Straße geht nicht eine Minderheit dieser Jahrgänge, sondern deren repräsentativer Querschnitt. So drängt sich der Eindruck auf, dass ganze Gesellschaften dabei sind, ihre eigene Zukunft zu verspielen.

Das ist in der Mehrzahl der arabischen Staaten der Fall, aber auch in Chile, in Südeuropa wie in Griechenland, Spanien und Portugal, in Teilen Frankreichs und Großbritanniens – sowie in den USA. Offenbar ist das politische System oder die jeweilige Regierung nicht mehr dazu in der Lage, die durch die eigene Bildungspolitik beförderten Berufserwartungen zu erfüllen. So kündigen die Regierenden einen wesentlichen Teil ihres Gesellschaftsvertrags auf.

In einer Einwanderungsgesellschaft wie den USA kommt noch etwas anderes hinzu. Der American Dream, ein Herzstück der Selbstmythologisierung, wird elementar infrage gestellt. Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, auf Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit wird immer häufiger düpiert. Während die Banker und Broker, die Hedgefondsmanager und andere Finanzjongleure im großen Stil abräumen, bleiben diejenigen auf der Strecke, die für die Fortentwicklung und Stabilität Amerikas ausschlaggebend sind. Seit im Herbst 2008 mit der Pleite der LehmanBank die latente Finanz- und Wirtschaftskrise offen ausgebrochen ist und ein Hoffnungsträger wie Präsident Obama die gravierendsten Probleme – Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, das mangelhafte Gesundheits- und Sozialsystem – nicht in den Griff bekommt, breitet sich zunehmend Panik aus. Auch in jenen Schichten, die einen erheblichen Anteil an den bisherigen Fortschrittsdynamiken haben. Im Land der einst unbegrenzten Hoffnungen wächst die Zahl der sozialen Verlierer. Gegen diese düsteren Aussichten beginnt sich ein Teil der Betroffenen kollektiv zur Wehr zu setzen, aller Fragmentierung und Individualisierung zum Trotz.

Niemand kann eine zuverlässige Prognose darüber abgeben, wie weit sich die Proteste noch ausweiten und welche politischen Folgen sie in den USA womöglich nach sich ziehen werden. Aber die Chancen sind hoch, dass das Jahr 2011 eine politische Zäsur markieren könnte, die an die Epochenwenden von 1968 und 1989 zumindest heranreichen könnte.

Auf jeden Fall gilt dies für die arabischen Staaten; für Südeuropa dürften die Protest auf lange Sicht weniger einschneidend sein. Am unwahrscheinlichsten ist eine nachhaltige Wende in den USA. Bislang deutet nichts darauf hin, dass der politisch ohnehin geschwächte Barack Obama die Impulse aufgreifen und in die überfälligen Reformen im Finanz-, Sozial- und Gesundheitssektor umsetzen könnte.

Und in Deutschland? Die Gegner von „Stuttgart 21“ stehen mit der von ihnen geforderten Volksabstimmung womöglich vor einer empfindlichen Niederlage. Der Berliner Überraschungserfolg der Piraten hat zwar Charme, aber die Partei steckt sichtlich noch in den Kinderschuhen. Die politische, soziale und kapitalismuskritische Protestwelle, die bereits um den halben Erdball rauschte, hat die hiesigen Gestade bislang kaum erfasst.

Wolfgang Kraushaar ist Protestforscher und Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Von ihm erschienen zuletzt „Verena Becker und der Verfassungsschutz“ sowie „68 – Eine Bilanz“.

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