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Kultur: War einmal ein Samowar

Michael Thalheimer kocht am Deutschen Theater Berlin „Drei Schwestern“ auf

Sind wir bei Tschechow nicht alle Liebhaber und Spezialisten? So oft gesehen und nie ausgeschöpft: Kennen wir die Dramen Tschechows nicht so gut, so schlecht wie uns selbst – so wie wir auch die Menschen betrachten, die uns nahe sind? Tschechow ist Ruhe, Tschechow ist Revolution, und wahrscheinlich gibt es in der Weltgeschichte keinen zweiten Dramatiker, der die Unterscheidung von Komödie und Tragödie über den Tod hinaus so gründlich vergessen macht.

Riesengroß war die Erwartung vor der „Drei Schwestern“-Premiere am Deutschen Theater Berlin. Michael Thalheimer gilt inzwischen als Spitzenregisseur, als einer der ersten Interpreten und Zurichter klassischer Texte. Seine „Emilia Galotti“ genießt Kultstatus, und das Haus von Intendant Bernd Wilms braucht dringend einmal wieder durchschlagenden Erfolg. Weil sich auch, wie nach dem 11. September, die Frage stellt, ob man überhaupt den Kopf frei hat für zivile Filigrankunststücke. Was es für das Theater bedeutet, wenn man ohnmächtig auf das anschwellende Kriegsgetöse starrt.

Nein, jetzt bloß keine vordergründigen Bezüglichkeiten! (Die „Drei Schwestern“, Töchter eines verstorbenen Offiziers, leben in einer Garnisonsstadt und wuchsen im Dunstkreis des Militärs auf, da böte sich ein politischer Kommentar an.) Michael Thalheimers Regie fällt ins andere Extrem: Wir erleben ein arrogantes Theater-Theater, eine exklusive Innenschau von Gefühlswelten, die freilich nicht ausgeforscht, sondern bloß ausgestellt werden, mehr oder weniger elegant. Ein Theater, das sich blindlings in seine Form verliebt. In ein Erfolgsrezept.

Leere Bühne. Leere Gesichter. Leere Worte. Es ist wohl das Traurigste, was man über eine ambitionierte Tschechow-Aufführung sagen kann: dass man alles schon kennt. Dass der Regisseur behauptet: Es gibt hier nichts mehr zu entdecken. Tschechow, ein toter Autor. Elegisch drehen sich die hohen Wände, die in hellem Holz gehalten sind. Eine bluesige Musik windet sich in Endlosschleifen, wickelt sich um Olaf Altmanns streng geometrische Aufbauten, die für Thalheimers Ästhetik ebenso charakteristisch sind wie das choreografisch-monotone Styling des Personals. Am Ende, was für eine Überraschung, werden Anika Mauer (Olga), Isabel Schosnig (Mascha) und Regine Zimmermann (Irina) allein und verlassen auf der umgekippten Mauer hocken und malerisch in die leere Weite blicken – drei Frauen, kaum voneinander zu unterscheiden, nicht im Ton, nicht in der Gestik, nicht in der Aufmachung.

Gespielte Langeweile, gefühlte Langeweile, an die zweieinhalb Stunden. Für einen Tschechow ist das eher ein Schnelldurchlauf. Doch wenn nichts geschieht, was sich nicht ins enge Konzept einfügt, wenn die Akteure immer nur mit dem Rücken zur Wand stehen oder sich auf der großen, leeren Fläche eines Innenhofs gezielt verlieren, dann wird die Zeit quälend lang. Und während die Frauen einfach nur schön und in anonymes Leiden versunken sind, stolpern die Männer wie Jungstiere, denen man eine Beruhigungsspritze gegeben hat, übers Parkett. Später lässt Thalheimers Regie-Sedativ nach. Bernd Stempel, der Landarzt, brüllt seine Verzweiflung, sein Versagen (er hat eine Patientin zu Tode kuriert), sein Nichtigkeitsempfinden heraus. Das wirkt ansteckend: Nun heben auch Ingo Hülsmann (Andrej, der Bruder der drei Schwestern) und Sven Lehmann (der mit Mascha heimlich liierte Offizier Werschinin) die Stimme. Immer hat man das dumme Gefühl, dass Thalheimers Figuren stellvertretend für andere den Mund auftun, dass sie fremdes Unglück beklagen und fremder Leute Bekenntnisse ablegen. Allein Horst Lebinsky (der alte Diener Ferapont) scheint ganz bei sich – als mümmelnder Clown. So viel zur sozialen Frage.

Die „Drei Schwestern“ haben einiges hinter sich. Als verlangten sie nach einer festen Hand: Peter Stein hat vor zwanzig Jahren an der Schaubühne das alte Stanislawski-Regiebuch reanimiert. In eine elektronische Wohnküche sperrte die New Yorker Wooster Group die russische Bagage – und entfesselte messerscharfe Dialoge. Stefan Pucher hat zuletzt in Zürich auf den ersten Blick etwas Ähnliches versucht wie Michael Thalheimer: Da sah man eine Gesellschaft im Sitzstreik aufgereiht, Schauspiel-Larven, die dann aber auf atemberaubende Weise ins Leben zurückschnellten, nach Moskau . . .

Hier, am Deutschen Theater, nicht: Sie bleiben stur, sie erzählen uns und sich nichts. Bald kommt der Augenblick, dass Thalheimer nicht weiter weiß. Er beginnt nach Zitaten zu suchen. Die Truppe stellt sich zum Familienfoto auf, als wär’s der Strauß’sche „Schlusschor“. Ein Video mit spielenden Kindern ist plötzlich zu sehen – so etwas gibt es auch in Puchers Tschechow-Variationen, bei Castorf, überall. Endlich kommt das rituelle Schwätzen und Schreien an ein Ende. Der letzte Akt verdämmert im Schweigen. In chiffrenhaften Bewegungen. Minimalistisches Tanztheater – die Musik schwillt an. Stillstand, weil bei Tschechow eben alles still zu stehen hat. Doch dieses stille Wasser ist flach.

Thalheimers explosive Erfolgsgeschichte liest sich wie ein Kompendium einschlägiger Theater-Renner. „Kabale und Liebe“, „Liliom“, „Emilia Galotti“, „Das Fest“; seine Hamburger „Liebelei“ nach Schnitzler wurde gerade fürs Berliner Theatertreffen nominiert. Der Regisseur brillierte bislang mit handlungsstarken Stücken, ließ seine Protagonisten mit Vollgas in die Katastrophe rasen. Zwang der klassischen Dramaturgie seine radikalen Reduktionen auf, brachte die Essenz zum Leuchten. Diesmal war er von DT-Chefdramaturg Oliver Reese schlecht beraten: Denn bei Tschechow funktioniert die Vivisektion nicht. Was Thalheimer sonst mit der Dramenliteratur so schön anstellt, hat Tschechow längst vollzogen: in seiner Sprache, die das Entscheidende oft nicht sagt, sondern unausgesprochen zwischen die Worte setzt. In den besten Momente der „Emilia Galotti“ war Thalheimer so viel näher dran an Tschechows Geheimnis: dem heißen, neben dem Takt schlagenden Herz. Eine Geste, ein Blick – und die Welt ist nicht mehr die, die wir eben noch kannten.

Und jetzt: „Drei Schwestern“, so modisch, so von gestern. Unbeweglich, unbewegt. Zickig-zackig. Die Schlüsselszene erleben wir schon nach wenigen Minuten: Da kommt einer mit einem Samowar an und schleudert den Pott wütend zu Boden. Doch der Samowar, offenbar als Symbol des „alten Theaters“ herbeigeschleppt, nimmt kaum Schaden. Will sich partout nicht dekonstruieren lassen. Wozu auch! Diese Schlacht ist hundert Mal geschlagen. Und mit Tschechow hat sich Thalheimer selbst besiegt.

Wieder am 8., 12., 15. März .

Rüdiger Schaper

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