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"War Requiem" in der Philharmonie: Tote Wasser, ewige Nacht

Zu Benjamin Brittens 100. Geburtstag: Dirigent Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker mit dem „War Requiem“.

Die Knaben des Staats- und Domchors Berlin stehen auf der höchsten Empore, aber mit dem Rücken zum Publikum. Ein Schatten liegt auf ihrem glockenhellen Lobpreis Gottes, der Schatten der ewigen Nacht. Es gibt noch mehr Überraschungen bei diesem den Opfern der Hochwasserkatastrophe gewidmeten „War Requiem“ in der Philharmonie, so hat Simon Rattle die Sopranistin neben die Blechbläser platziert, ihre Kassandra-Rufe ertönen mitten aus dem Kriegsgetümmel. Aber entscheidend an diesem Abend mit Benjamin Brittens Antikriegs-Manifest sind nicht solche Effekte, sondern die ungeheuerlichen Klangwirkungen und seismischen Erschütterungen, die Rattle und das Riesenensemble der Philharmoniker auslösen, samt Chören, Kammerorchester und den Solisten Emily Magee, John Mark Ainsley und Matthias Goerne.

Die amorphe Trümmerlandschaft des Anfangs. Die herumirrenden Stimmen, eskortiert von der sanft intonierten Tritonus-Dissonanz. Der Trauerflor, der den sonoren Chorgesang umweht, ob sie nun flüstern und stammeln oder sich im Schmerz Mut zusprechen. Die heranrollenden Klangwellen des „Hosanna“. Die Bläserstars der Philharmoniker, von Emmanuel Pahud bis Stefan Dohr, die Ainsleys klirrend kühlem Tenor und Goernes Bariton-Pathos derart aparte Resonanzböden bereiten, dass man sich fragt: Woher um Himmels weht einen diese Jenseitsmusik an? Das gestopfte Horn, die Pianissimo-Flöte, die aschgraue Oboe Albrecht Mayers, die ersterbend dazwischenfahrende Klarinette Andreas Ottensamers: Sind’s noch manifeste Töne oder längst Halluzinationen des inneren Ohrs?

Rattle nutzt die spröde Poesie der ergänzenden Verszeilen Wilfred Owens, um mitten in der Agonie die letzten Zuckungen der Menschlichkeit zu artikulieren. Ergreifend der Moment, wenn Goerne das berühmte „I am the enemy you killed, my friend“ anstimmt. Rattle macht keinen Hehl daraus, dass noch der flammendste Antikriegs-Appell nicht ohne martialischen Duktus auskommt. In der kakofonen Klimax des „Libera me“ entfesselt er den Höllenlärm einer Militärmaschinerie und entseelt die Musik. Der Rundfunkchor mutiert zum mechanischen Klangkörper, das Vokale, das Instrumentale mündet in mörderisch-monströse Abstraktion. Der große Gleichmacher Krieg, so hört man ihn selten. Und Emily Magee, die mit kraftvollem Timbre überragende Solistin des Abends, schreit ihr hohes C heraus.

Rattle, der sich seit seiner Aufnahme mit dem City of Birmingham Orchestra immer wieder mit dem „War Requiem“ befasste, reißt im Jahr des 100. Geburtstags von Britten erneut einen Geschichtsraum auf. Wie bei der Uraufführung 1962 in der wiedererrichteten Kathedrale von Coventry bestreiten ein Brite und ein Deutscher (damals Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau) den Tenor- und den Bariton-Part. Und wie in seiner Einspielung aus den 80ern misstraut er dem Trost des „Requiescat in pace“. Der Knabenchor wendet sich zuletzt dem Publikum zu, aber das „In Paradisum“ bleibt in Watte gepackt, ein changierendes Ungefähr. Das Paradies, ein unerreichbar ferner Planet. Und der Geist schwebt über den Todeswassern.

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