zum Hauptinhalt
Warte, warte nur ein Weilchen. Szene aus Jürgen Flimms Inszenierung von Händels „Trionfo“, im Bühnenbild von Erich Wonder.

© Staatsoper/Hermann und Clärchen Baus

Warum Barockmusik Spaß macht: Zeit der Verführung

Krimiautorin Donna Leon erklärt, warum es Spaß macht, Händel und Barockmusik zu hören – zum Beispiel das Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ an der Berliner Staatsoper.

Donna Leon schreibt Krimis – und liebt Barockopern. In ihrer Wahlheimat Venedig lässt sie ihren Commissario Brunetti ermitteln, in aller Welt lebt sie als Zuschauerin ihre Musiktheaterpassion aus. Besonders begeisterte sie Jürgen Flimms szenische Version des Händel-Oratoriums „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“, das die Berliner Staatsoper jetzt wieder zeigt. In einem exklusiv für den Tagesspiegel entstandenen Text erklärt sie ihre Leidenschaft.

Drugs, Sex and Rock ’n’ Roll. Plus Google, Facebook und Gier nach Geld – das ist es, was die Welt heutzutage zusammenhält. Wir leben in einer hedonistischen Zeit der Selbstdarsteller, der vulgären Darbietung von Reichtum und der Abkehr vom Glauben an Gott. Händels erstes Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ dürfte also beim heutigen Publikum mit wenig Vorschusslorbeeren, ja mit wenig Verständnis rechnen: ein Drama, welches der Heldin – und damit auch den Zuschauern vorführt –, dass irdische Genüsse ein Trugbild sind und nur, wer ihnen abschwört, Erlösung erlangen und reinen Herzens vor Gott treten kann.

Ein solcher Stoff klingt nicht gerade nach einem Straßenfeger, und Bellezza, die Heldin des Oratoriums, nimmt sich so schnell wohl niemand zum Vorbild. Als allegorische Figur wird sie durch ihre Schönheit definiert. Schon beim ersten Auftritt blickt sie in einen Spiegel, ein Kunstgriff, den Händel fast 40 Jahre später in seiner Oper „Semele“ noch einmal anwenden sollte. Semele ist ebenso in ihre eigene Schönheit und ihre Verführungskünste verliebt wie in Jupiter, den König der Götter. Sie fleht ihn an, ihr in seiner göttlichen Gestalt zu erscheinen, wohl wissend, dass dieser Anblick sie zur Todgeweihten macht. Die Strafe folgt auf dem Fuß; Gelegenheit zur Reue bekommt sie keine.

Der Zahn der Zeit nagt an den Toten

Anders Bellezza: Sie erfreut den Zuschauer nicht nur durch ihren Gesang, sondern soll ihn auch moralisch unterweisen. Darum folgen wir ihr auf dem Pfad der Tugend. Weitere allegorische Figuren, il Tempo (die Zeit) und il Disinganno (die Ernüchterung) ermutigen sie auf dem Weg der Entsagung. Gegenspieler ist das Vergnügen in Gestalt der wunderbar mehrdeutigen Figur il Piacere. Statt für Tugend und Selbstbescheidung plädiert il Piacere für Genuss und Sinnenfreuden. Und ob Sie es glauben oder nicht: Es ist der Inbegriff von Dramatik und Spannung, diesen vier dabei zuzuhören, wie sie von Erlösung und Verdammnis singen. Zu verdanken ist dies dem Genie von Händel und seinem Librettisten und Gönner Kardinal Benedetto Pamphili.

Schon die erste Szene nimmt das Ende des Oratoriums vorweg. Noch während Bellezza sich im Spiegel bewundert, wird sie der Vergänglichkeit gewahr: „Ich werde nicht immer schön sein.“ Sogleich ist il Piacere zur Stelle und gaukelt ihr vor: „Ich schwöre, du wirst immer schön sein.“

Doch da betreten die beiden Spielverderber, il Tempo und il Disinganno die Bühne. Il Disinganno bestätigt Bellezza, dass Schönheit – einmal verblasst – nie wiederkehrt. Bellezza, einer Philosophin der Aufklärung würdig, eröffnet sogleich ein Streitgespräch und fordert il Tempo heraus: Sie wüsste nur zu gern, ob er sie wirklich ihrer Schönheit zu berauben vermag. Il Tempo, ein ziemlich rauer Geselle, gemahnt sie, dass der Zahn der Zeit selbst an den Toten nagt und nur ein schauriges Skelett von ihnen bleibt.

Doch Bellezza und Piacere spotten in einem Duett: Es sei Torheit, darauf in der Jugend auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Ganz überzeugt ist Bellezza jedoch nicht, und ihre Unruhe überträgt sich auf die Geigen, während sie klagt, dass il Tempo ihren Seelenfrieden störe.

Keine gewöhnliche Verführungsgeschichte

Die Debatte wogt hin und her: Wird Schönheit verblassen? Lässt sich die Zeit besiegen? Geht Vergnügen mit Wahrheit in eins? Warum nicht den Augenblick genießen? Dank dem unendlichen Erfindungsreichtum des 61-jährigen Komponisten steigert sich das Ganze, bis der erste Teil in einem Quartett kulminiert. Bellezzas Sinnenwandel hat begonnen: Sie schenkt il Tempo Gehör.

Hat damit der Verführer nicht gewonnenes Spiel? Kaum leiht sie ihm ihr Ohr, sitzt er auch schon neben ihr, und ist sie in seiner Macht. Doch wir haben es hier mit keiner gewöhnlichen Verführungsgeschichte zu tun; das Oratorium stellt vielmehr alles Bisherige auf den Kopf, denn der Verführer möchte sein Opfer dazu bringen, der Welt zu entsagen und die eigene Seele zu retten.

Zwischen Sinnen und Sühne.

Ihre Freizeit verbringt Krimiautorin Donna Leon am liebsten in der Oper.
Ihre Freizeit verbringt Krimiautorin Donna Leon am liebsten in der Oper.

© dpa

Im zweiten Teil wird Bellezza zwischen il Piacere und il Tempo hin- und hergeschleudert wie eine Puppe. Bellezzas Bedenken machen il Piacere erst nervös, dann wütend: Wenn Bellezza dem Vergnügen abschwört, sei dies ein Vertrauensbruch, und sie werde wie alle Treulosen dafür büßen. Von il Tempo gedrängt, zwischen den Anwärtern zu wählen, antwortet Bellezza offen, sie könne sich zwischen Sinnen und Sühne nicht entscheiden. Als il Disinganno das hört, erklärt er, die Seele sei dem Leib überlegen und die Erbauung damit der körperlichen Lust. Il Tempo ermahnt sie, nur ja nicht den falschen Weg einzuschlagen.

Verängstigt fleht Bellezza um Aufschub, worauf die anderen drei wie die Wölfe über sie herfallen, in einem furiosen Ensemble. Bellezza wiederholt ihre Bitte um Zeit, wobei sie das Wort immer mehr in die Länge zieht, um die Entscheidung weiter hinauszuzögern.

Schließlich leistet Bellezza Verzicht und beugt sich den Tatsachen. Il Piacere räumt das Feld, nicht ohne zu verkünden: „Da Trug meine einzige Nahrung ist, wie kann ich mit der Wahrheit leben?“

Aller Illusionen beraubt und von il Piacere verlassen, frönt Bellezza schließlich der Tugend und der Entsagung, und das Oratorium endet mit einer innigen Arie, in der sich der Gesang um die Töne einer Solovioline rankt, während Bellezza Gott ihr „neues Herz“ darbringt.

Händel fragt sich: Wie führt man ein gutes Leben?

Händels „Trionfo“ ist nichts anderes als ein zweistündiger Disput unter allegorischen Figuren über die Frage, wie man ein gutes Leben führt. Verspricht das abwechslungsreiche Unterhaltung? Bevor Sie „Nein“ sagen, bedenken Sie den geschichtlichen Zusammenhang. Bedenken Sie, dass Rettung und Verdammnis auf dem Spiel standen. Für den Komponisten, den Librettisten und das Publikum war dieser innere Kampf gleichermaßen existenziell. Auch wenn weniger Gewalt und Action beteiligt sein mögen als heute in Film und Fernsehen. So gut wie alle Zuschauer rangen mit demselben Konflikt wie Bellezza.

Dazu kommt eine Musik von einer überragenden dramatischen Kraft. Sie ist ein Feuerwerk von Emotionen: Angst, Wut, Freude, Sehnsucht – die Musik steigert alles, was die Figuren in den Arien und Rezitativen zum Ausdruck bringen möchten.

Kardinal Pamphili, dem wir das Libretto verdanken, war einer der berühmtesten Männer Roms und ein bedeutender Schirmherr von Musikern. Und die Kirche bot eine grandiose Bühne. Der Kardinal mag nicht der Boss des Unternehmens gewesen sein, für das er arbeitete, zählte aber gewiss zu den Topleuten. Gefiel ihm die Musik eines aufstrebenden Komponisten, verhieß dies Aufträge und Verdienstmöglichkeiten. Ein Traum für jeden jungen Musiker. Pamphili, aus dessen Feder das Libretto stammt, bot es Händel zur Vertonung an. Eine Aufführung war damit garantiert.

Pamphili hatte schon viele Talente entdeckt, Alessandro Scarlatti, Arcangelo Corelli und Antonio Bononcini verdankten ihm Aufträge. Im jungen Händel aber, der dem Kardinal später Kantaten widmete, erkannte Benedetto Pamphili das Genie, das aus seinem Libretto ein fesselndes, faszinierendes Drama machen würde, das noch heute genauso atemberaubend ist wie vor dreihundert Jahren.

Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Werner Schmitz. Von Donna Leon ist vor wenigen Tagen Commissario Brunettis 22. Fall „Das goldene Ei“ im Diogenes Verlag erschienen. Die Staatsoper zeigt „Il Trionfo“ am heutigen Samstag sowie am 9. und 11. Juni im Schillertheater.

Donna Leon

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false