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In einer Bar während des Fußballspiels Frankreich-England am 17. November.

© dpa

Warum jetzt alle die Marseillaise singen: Herzschlag der Nation

Eigentlich ist sie ein blutrünstiger Gesang. Trotzdem stimmt alle Welt in diesen Tagen die Marseillaise an - jetzt erst recht. Wolfgang Prosinger weiß, warum.

Eigentlich ist es ja ein Kampflied, ein Kriegslied von schauerlichem Blutdurst. Aber dann singen gut 70 000 Menschen die Hymne im Londoner Wembley-Stadion, als wäre sie eine Ode an den Frieden. Die Marseillaise, die französische Nationalhymne, ist zum Lied der Völkerverständigung geworden, zur Freiheitsbotschaft der Staatengemeinschaft des Westens.
Das ist erstaunlich, denn wer sich nur ein wenig in den Text vertieft, gerät in wildes Kampfgetümmel. Von „brüllenden Soldaten“ ist die Rede, von „durchgeschnittenen Kehlen“. Sie gipfelt im Refrain in den Aufruf „Aux armes, citoyens“, zu den Waffen, Bürger, und endet mit den Worten „Unreines Blut tränke unsere Furchen“. Mit „unrein“ sind die Feinde gemeint. Das ist kein Wunder, denn die Marseillaise wurde in der Nacht zum 26. April 1792 von Claude Joseph Rouget de Lisle als Kriegslied für die französische Rheinarmee im Kampf gegen Österreich geschrieben. Und sie blieb ein Soldatengesang, der seinen Namen vom Einzug eines Heers aus Marseille in Paris erhielt. 1795 wurde er zur Nationalhymne erklärt, von Napoleon wieder abgeschafft und in der Dritten Republik ab 1871 erneut zur offiziellen französischen Nationalhymne.
So garstig die Worte sind, die Marseillaise barg immer und für alle Zeiten die Chiffre für den Kampf gegen Unterdrückung, für eine Freiheit, die auch mit Blut zu erstreiten war. Zum Tode Verurteilte sangen sie auf dem Weg zur Guillotine, genauso KZ-Häftlinge. Und ungarische Freiheitskämpfer beim Aufstand von 1956. Sogar 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking erklang die Marseillaise.

Es ist diese Freiheitschiffre, die den Text übertönt, in den Hintergrund stellt. Stefan Zweig, österreichischer Dichter, schrieb vom „Herzschlag einer Nation“ und vom „jubelnden Takt“. Wahrscheinlich trifft Letzteres am besten, die zündende Melodie mit punktiertem Marschrhythmus ist gewiss größtes Erfolgsgeheimnis des Lieds. Dabei ist es wegen seiner Intervallsprünge und der Molleintrübung im Mittelteil nicht ganz einfach zu singen, was bei der Massenintonierung im Wembley-Stadion auch gut zu hören war. Zugleich aber geht der Fanfaren-Ton unkompliziert ins Ohr, in seinem aufsteigenden Aufbegehren ist er unmittelbar verständlich. Weshalb sich nicht wenige Komponisten die Marseillaise aneigneten: Berlioz, Debussy, Schumann, Tschaikowsky. Die Beatles leiten „All you need is love“ mit der eingängigen Fanfare ein. Auch in die Filmmusik zu „Casablanca“ hat sie Eingang gefunden. Und sie ist in zahllosen Nach- und Umdichtungen auch ein Lied der deutschen Arbeiterbewegung.
Schon früh also wurde den Franzosen ihre Freiheitshymne enteignet, sie geriet zum internationalen Passepartout für den Widerstand schlechthin. Diese Kraft hatte schon Goethe erkannt. „Ergreifend“ nannte er sie. Wobei er sofort hinzufügte, sie sei doch auch „furchtbar“.

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