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Kultur: Warum Rinka anfing, Karate zu trainieren - Anja Tuckermann ringt um das Seelenleben eines Mädchens

Gibt es so was nicht nur im Film? fragt sich Rinka und sie wünscht, sie hätte rechtzeitig mit anderen Frauen darüber gesprochen, wie die sich gewehrt haben, als sie angegriffen wurden.

Gibt es so was nicht nur im Film? fragt sich Rinka und sie wünscht, sie hätte rechtzeitig mit anderen Frauen darüber gesprochen, wie die sich gewehrt haben, als sie angegriffen wurden. Vielleicht hätte sie sich dann anders verhalten. Rinka, knapp achtzehn Jahre alt, ist mit dem Messer bedroht und vergewaltigt worden. Seither ist nichts mehr wie es einmal war. Seither will sie nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben. Sie panzert sich ein, ringt monatelang nach Luft, versteckt ihren Körper in weiten Klamotten. Mal stürzt sie sich ins Nachtleben und geht erst nach Hause, wenn die Stühle hochgestellt werden. Mal verlässt sie die Wohnung nur, um zur Arbeit in einer Anwaltskanzlei zu gehen. Obwohl sie Freunde hat, kann Rinka nicht über das sprechen, was ihr angetan wurde. Sie fühlt sich wie eingefroren. Von Tag zu Tag wird es stummer in ihr.

Anja Tuckermann erzählt auf eindringliche Weise den schmerzhaften Prozess der Verarbeitung des Unfassbaren. Ihr Buch ist kein Kompendium für Betroffene, das alle Aspekte des Themas behandelt. Vielmehr geht es der Autorin um Rinkas Seelenleben. Wie man nach der demütigenden Erfahrung weiterleben kann, das ist ihr eigentliches Thema. Nie hätte Rinka gedacht, dass gerade sie die statistische Dritte sein könnte. Schuldgefühle plagen sie: Rinka kann sich nicht in die Augen sehen.

Erst als sie in der U-Bahn die Telefonnummer des Notrufs für vergewaltigte Frauen entdeckt und den Mut hat, dort anzurufen, gelingt es ihr, sich zu öffnen. Aus ihrer Angst, ihrer Verzweiflung wird Verachtung, entsteht der Wunsch nach Rache ("Ich würde ihm etwas antun, dass er nie vergisst, sein Leben lang nicht."). Ganz allmählich, Schritt für Schritt, kann Rinka den Ekel und die Angst vor Männern, vor jeder Berührung, jeder Begegnung überwinden. Es dauert lange, aber schließlich schafft sie es, auch ihren eigenen Körper wieder an allen Stellen zu akzeptieren.

Anja Tuckermann hat ein kämpferisches, ein mutiges Buch geschrieben, das nicht verharmlost. Hier wird ein ernstes Thema offen und sprachlich gut behandelt. Von den Lesern wird viel verlangt, schonungslos werden sie mit einem Geschehen konfrontiert, das beklommen macht. Verkraften 15-, 16-jährige das? werden besorgte Eltern fragen. Warum nicht? Auch wenn man sich für Jugendliche an manchen Stellen mehr Behutsamkeit, mehr Beachtung der schönen, zärtlichen Seiten der Sexualität wünscht, so ist das Buch doch realistisch. Es regt an zum Nachdenken und zu Diskussionen. In der Familie, im Freundeskreis oder in der Klasse. Vor allem macht es Mut, denn es weist einen Weg, der Frauen und Mädchen aus der Opferrolle herausführt und ihnen zu mehr Selbstbewusstsein verhilft. Rinka ist eine geworden, die nicht aufgibt. Sie geht nun zum Karatetraining, denn sie weiß, jede Frau muss lernen, sich selbst zu schützen. Und so wird sie auch einmal ihre Kinder erziehen: "Meine Tochter soll sich verteidigen können. Wissen, was sie will. Niemals nachgeben, wenn sie etwas nicht möchte."Anja Tuckermann: Nicht sprechen, nicht schweigen, nicht gehen, nicht bleiben. Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2000. 192 Seiten. 22 DM. Ab 15 Jahren.

Margit Lesemann

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