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Kultur: Warum wir unsere Toten beerdigen: Einfach nur verschwinden. Immer mehr Menschen lassen sich anonym bestatten

Niemand gab Beate S. das letzte Geleit.

Niemand gab Beate S. das letzte Geleit. Nach ihrem Tod, so hatte es die 74-jährige Mutter von drei Kindern mit ihrem Mann vereinbart, wollte sie eingeäschert und in einem anonymen Urnenfeld beigesetzt werden. Keine Trauerrede am Grab, keine Tränen, keine Beileidsbezeugungen - und nichts, was auf der weiten Rasenfläche an die Verstorbene erinnert. Immer mehr Menschen in Deutschland und Europa wollen auf diese Weise Abschied nehmen, ohne Gebete, ohne Trauerfeier und ohne einen sichtbaren Ort für Familie und Freunde zu hinterlassen. Die Zahl der anonymen Bestattungen steigt rasant, "und der Trend ist unaufhaltsam", stellt die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Barbara Happe fest.

Starkes Nord-Süd-Gefälle

Dabei ist ein deutliches Nord-Süd-Gefälle in Deutschland und Europa zu beobachten. In Skandinavien, vor allem in Dänemark und Schweden, lassen sich bis zu 90 Prozent der Verstorbenen mittlerweile anonym beerdigen. Von dort griff die Entwicklung in den 60er Jahren auf Norddeutschland über, schwächt sich aber zum Süden hin ab. In Hamburg beispielsweise hat sich die Zahl der anonymen Bestattungen von 500 im Jahr 1975 auf 4830 im Jahr 2000 etwa verzehnfacht. In Berlin verzichteten derweil rund 12 000 Menschen auf ein eigenes Grab, das sind knapp ein Drittel aller Bestattungen. Das gleiche Bild bieten auch die neuen Bundesländer, während die Quote in katholisch geprägten Städten wie Köln, Münster, München und Augsburg nach wie vor niedriger als fünf Prozent ist. Ähnliches gilt für südeuropäische, katholische Länder wie Italien und Spanien. Für die großen Kirchen signalisiert das einen Niedergang der Friedhofs- und Trauerkultur. Die Einstellung zu Sterben und Tod habe sich gewandelt, die Unfähigkeit, mit Schmerz und Trauer umzugehen, sei gewachsen, heißt es. "Die einsame, anonyme Beerdigung markiert oft das Ende eines Lebens, welches der Verstorbene schon viele Jahre lang als sinnlos und belastend erlebt hat", erläutert Karl Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. In seinen Augen sind anonyme Bestattungen Ausdruck eines Mangels an zwischenmenschlichen Beziehungen sowie eines Mangels an Solidarität zwischen den Lebenden und den Toten.

Es fehlt der Ort für die Trauer

Zudem erweist sich die anonyme Beerdigung, die für viele auf den ersten Blick die Auseinandersetzung mit dem Tod zu erleichtern scheint, nicht selten als seelischer Bumerang. Nach einiger Zeit beginnen Hinterbliebene, ihren Entschluss zu bereuen. Ihnen fehlt ein Ort für ihre Trauer und für die Zwiesprache mit den Gestorbenen. Auf Riten und Rituale, die bei der Verarbeitung von Leid und Schmerz helfen könnten, haben sie bewusst verzichtet. Wenn die Urne aus dem Krematorium kommt, vergraben die Friedhofsarbeiter sie ohne viel Aufhebens in dem grasbewachsenen Grabhügel.

"Immer wieder kommt es vor, dass Angehörige ihre Verstorbenen noch nachträglich in einem Einzelgrab beisetzen wollen", weiß ein Mitarbeiter des Friedhofamtes der Stadt München. Doch das ist unmöglich, denn anonyme Bestattungen lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Diese seelische Not im Nachhinein belegen auch Szenen, die sich immer wieder auf den großen Urnenhainen der Friedhöfe beobachten lassen. Menschen, die mit ihrer Trauer nicht fertig werden, drücken dem Friedhofspersonal Geld und einen Blumenstrauß in die Hand, mit der Bitte, ihn an dem unbekannten Urnenplatz ihrer Verstorbenen abzulegen. Oder sie irren eine Zeitlang auf dem Gelände umher, suchen einen Ort, wo sie ihre Blumen niederlegen können. Nach einer Weile legen sie diese dann irgendwo abrupt hin und gehen schnell davon.

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