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Gegen alles und jeden. Demonstranten in Sofia am vergangenen Sonntag.

© AFP

Kultur: Was die Proteste nach dem Rücktritt der bulgarischen Regierung bedeuten

Die Wut hat keinen Adressaten mehr, nach dem Rücktritt der bulgarischen Regierung richtet sich der Protest gegen alles. Doch das größte Problem des Landes ist wohl die Familienstruktur.

1989 hatten die Menschen noch zwei Finger zum Victoryzeichen gereckt. Heute zeigen sie nur noch den Stinkefinger. Was ist geschehen? Der Sturz Todor Shivkovs, des letzten kommunistischen Staatschefs, ging mit einer Leichtigkeit vonstatten, die nichts Gutes verhieß. Der Rücktritt der jetzigen Regierung – Premier Boiko Borissow machte sich wie ein trotziger Junge davon – lässt die Massenproteste ins Leere gehen. Die Wut hat keinen Adressaten mehr, genau deshalb richtet sie sich nun gegen alles.

In den letzten Tagen habe ich mir bis tief in die Nacht angesehen, wie die Demonstranten in den Straßen von Sofia herumirrten. In ihnen wohnt die Verzweiflung von Menschen, deren Leben falsch gelaufen ist, die nicht wissen, was sie machen sollen und nun darauf warten, dass jemand ihren Protesten einen Sinn gibt.

Sie lehnen sich auf gegen den Staat und sehnen sich zugleich nach Verstaatlichung. So viel Widersprüchlichkeit ist anfällig für populistische und extremistische Stimmungen. Denn die Gemeinschaft der Verzweifelten ist verführbar: Schnell kommen ein paar kräftige Kerle daher, die darauf aus sind, die Macht an sich zu reißen, eine gesichtslose Avantgarde mit Kapuzenshirts.

Sind diese Streifzüge mit Flaschen und Steinen das Gesicht der erhofften Zivilgesellschaft? Oder sind sie eine Folge von deren Mangel? Der Titelessay meines Buches „Unsichtbare Krisen“ wurde 2010 geschrieben, zu einer Zeit, als ich noch nicht daran dachte, dass sich derartige Szenen ereignen würden. Aber man muss sich nur umsehen: Wo die „Sinnvorkommen“ wie in Spanien oder Griechenland erschöpft sind, fällt man von einer gewissen Höhe auf eine niedrigere Stufe. In Bulgarien fällt man von einem Abgrund in einen noch tieferen Abgrund.

Die große Frage ist nicht, wer meine Stromrechnung bezahlt, sondern wer für mein zerstörtes Leben aufkommt: Das bewegt die Demonstranten, selbst wenn sie es nicht aussprechen. Natürlich spüren alle das Loch in der Tasche. Aber hinter der finanziellen Krise stehen weitere, ebenso schwere Krisen. Wer jetzt 30 Jahre alt ist, hat 24 Jahre lang die Zeit der Nachwende erlebt. Aus historischer Perspektive ist das nicht viel, biografisch gesehen schon. Man darf nicht vergessen, dass die bulgarischen Krisen, einschließlich des Elektrizitätsproblems, schon Mitte der 80er Jahre einsetzten, zum Teil noch früher. Inzwischen lassen sie sich nur nicht mehr verbergen.

Einer der größten gesellschaftlichen Fehler war es, sich von kritischem Nachdenken und der Literatur abzuwenden und alle existenziellen Krisen mit Showprogrammen glattzubügeln. Man hat sich, mit den Worten von Neil Postman, zu Tode amüsiert, schmeißt in den Tavernen mit Konfetti um sich und steht mit Salat und Rakia in der Gegend herum.

Aber es gibt auch einen anderen Weg. Einen Weg, der mit der Kultivierung des Selbst, mit Widerstand und Zivilcourage zu tun hat. Wenn wir auf die Straße gehen und den Regierenden vorwerfen: „Ihr seid schuld, dass wir so leben“, dann ist das nur die halbe Wahrheit.

Es ist eine Angewohnheit aus sozialistischen Zeiten, den Mächtigen die Verantwortung für alles zuzuschieben. Wir können den Staat nicht für all unsere Depressionen verantwortlich machen. Wer sagt „Ich will nicht hier leben, weil die Mächtigen korrupt sind“ und gleichzeitig einen getürkten Arbeitsvertrag mit Minimalgehalt unterschreibt, damit er dem Staat weniger Steuern schuldet, der wird selbst Teil dieses fatalen Systems. Zu ihm gehören auch Kaufhausangestellte, die einem das geringste Lächeln verweigern und der qualmende Taxifahrer, der nicht rauchende Fahrgäste anherrscht: „In meinem Wagen tue ich, was ich will.“

In allen meinen Büchern wollte ich über Menschen schreiben, die nicht in der Zeitung stehen, Menschen, die sich mit einem Stundenlohn von 50 Cent begnügen müssen. Es ist wichtig, sie von ihren Manipulatoren zu unterscheiden. Unser Staat ist ziemlich klein, alles kommt früher oder später ans Licht.

Das größte Problem ist die Familienstruktur unserer Gesellschaft. Für die jungen Leute ist der einstige Sozialismus vor allem Lifestyle, Design, eine Kneipe mit sozialistischem Interieur. Für die Älteren ist er eine Erinnerung an ruhigere Zeiten. Gott sei Dank gibt es vor allem an den Universitäten auch ernst zu nehmende Auseinandersetzungen mit der politischen Vergangenheit. Aber im Alltag finden praktisch keine Debatten darüber statt. Wir haben Kneipen mit dem alten Nippes, aber kein Museum dafür. Denn es ist leichter, mit Nostalgie zu handeln, als sie zu analysieren. Auch darum sollte es in diesen Tagen gehen.

Georgi Gospodinov, 1968 im bulgarischen Jambol geboren, lebt als Schriftsteller in Sofia. In deutscher Sprache sind unter anderem sein „Natürlicher Roman“ und die Gedichte „Kleines morgendliches Verbrechen“ erschienen. 2008/09 war er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Mariya Yanchevska hat seinen Text aus dem Bulgarischen übersetzt.

Georgi Gospodinov

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