zum Hauptinhalt

Was machen wir heute?: Dem Fortschritt weichen

Das kürzere Ende der Lychener Straße, der Bullenwinkel. Man hätte gern hier gewohnt in der Hoffnung, vom Fortschritt übersehen zu werden.

Das kürzere Ende der Lychener Straße, der Bullenwinkel. Man hätte gern hier gewohnt in der Hoffnung, vom Fortschritt übersehen zu werden. Nun wurde das Haus von A. aber doch modernisiert, die Wohnungen standen zum Verkauf. Weil er immer so hilfsbereit war, musste ich ihm auch beim Umzug helfen – eigentlich war Hilfsbereitschaft ja Erpressung. Andererseits traf man den Freundeskreis wieder, und es war interessanter, als auf einer Party rumzustehen. Partys waren ja auch selten geworden, eigentlich sahen wir uns nur noch zu den Umzügen, wenn wieder einer seine Wohnung aufgeben musste. Zum Glück hatte A. schon beim letzten Umzug seine Kühlschranksammlung aufgelöst, je älter man wurde, umso weniger musste man sich mit originellen Installationen profilieren.

Der Hof, ein Stück Wildnis in der Stadt, Sprayer kamen von hier auf Schleichwegen an die S-Bahn-Linie. Jetzt hatten die Bauarbeiter alles Grün zertrampelt, das Haus hatte einen Anbau bekommen, die üblichen scheußlichen Plastefenster, ein gläserner Außenfahrstuhl, wie man weiß ein Symbol der Macht. Die neuen Wohnungseigentümer spazierten schon über den Hof, während zerlumpte Alt-Prenzlauer-Berger einen ihrer Stützpunkte räumten. Auch wenn wir alle zusammengelegt hätten, hätten wir uns von der Vierraumwohnung nicht einmal den Flur leisten können. Kinderzeichnungen wurden von der Wand genommen, Schallplatten doch noch einmal mitgeschleppt. „Die 100 besten Plakate von 1980“, sollte man so ein Buch verkommen lassen? Eine Beinprothese, ein Hometrainer, eine S-Bahn-Heizung, wie man sie früher als Radiator benutzte. Die Wohnung hatte zwei Stromkreise, jemand hatte sie im Osten mal auf eigene Faust mit der Nachbarwohnung zusammengelegt. Das war, was einen so am Altbau fasziniert hatte, dass der genaue Grundriss den Vermietern ein Geheimnis war. Aber schon Kafka wusste: Als erstes kommen die Landvermesser. Jochen Schmidt

Filme über den alten Prenzlauer Berg, derzeit im Kino Krokodil, www.kino-krokodil.de

Jochen Schmidt

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false