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Was machen wir heute?: Dem Telefonorakel folgen

Wie ein Neuberlinerdie Stadt erleben kann

Es war zu befürchten: Ein paar Monate in Berlin, und ich lebe so wie in der Kleinstadt, aus der ich komme. Was ich in Bonn nicht gemacht habe, mache ich auch in Berlin nicht: Oper, Vernissagen, Filmfestivals, glamouröse Cocktailbars – alles ohne mich. Ich dämmere im Kiez vor mich hin und frage mich: Gibt es das? Ein richtiges Provinzleben in der Großstadt? Ich notiere Dinge, die ich nie getan habe und nie tun will. Ich gebe ihnen Zahlen, dann rufe ich meine Mutter an und bitte sie, eine Zahl zwischen 1 und 23 zu nennen. „Zwölf“, sagt sie. Ich schaue auf den Zettel: Cocktailbar. Wie langweilig. Aber das mütterliche Telefonorakel soll man nicht infrage stellen. Per Internet finde ich eine Bar in Mitte, die sich selbst als „Symbiose aus Genuss und Ambiente“ beschreibt.

Der Türsteher gibt mir durch einen Blick zu verstehen, dass es sehr nett von ihm ist, mich in meinem Aufzug einzulassen. Ich gebe ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er aussieht wie ein Schiffschaukelbremser. Zwei Glasscheiben trennen den Raum von der Straße. Über der Bar Hunderte von Flaschen hinter Gittern, wie Käfigtänzerinnen im Nachtclub. Am Tresen ältere Männer und jüngere Frauen. Sie haben sich herausgeputzt. Eine Frau steht allein, guckt lasziv, nippt am Sekt. Ich will mich in einen der Sessel setzen, werde aber verwiesen: „Dies ist ein Champagnertisch.“ Von einem Stehtisch aus betrachte ich eine Weile das „weltweit größte Newton-Foto in Privatbesitz“. Die „Big Nudes“ sind große, nackte Frauen in Leni-Riefenstahl-Gedächtnis-Optik. Ich betrachte die Leute: Es stimmt nicht, dass Männer mit den Jahren automatisch attraktiver werden. Oft nur unverschämter. Und Jugend alleine gereicht einer Frau nicht zur Zier. Am Ende des Abends habe ich drei Gin Tonic für 36 Euro getrunken, einen Versicherungsvertreter aus Halle kennengelernt und bin von einer magersüchtigen Schwarzen an- oder ausgelacht worden. Als ich gehe, steht die laszive Frau immer noch allein am Tresen. „Mensch, Mutter!“, denke ich. Anselm Neft

Newton Bar, Charlottenstraße 57, Mitte

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