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Was machen wir heute?: Dem Wintergarten nachtrauern

Wie ein Rentnerdie Stadt erleben kann

Da fehlt doch was!? Die Potsdamer Straße in Tiergarten ist nicht gerade ein Prachtboulevard, aber abends blühte sie an einer Stelle richtig auf, ließ verschwenderisch die Lichter leuchten, das Funkeln der Großstadt, verheißungsvoll, verführerisch, vielversprechend, vielsagend: Hereinspaziert, hier kriegt ihr das Besondere, den Spaß, das Original, ohne Netz und doppelten Boden, Muskelspiele, schwingende Hüften, wackelnde Popos, schwebende Jungfrauen, rassige Kerle, tanzende Glieder, Gedankenleser, Kartenleger, Akrobat schöööön mit seinen Gespielen und all dem Flitter und Tand.

Der Wintergarten ist seit 13 Tagen vergittert, die Gegend verdustert, und vielleicht darf man an einem Freitag dem 13. den Blues der Erinnerung spielen. Denn zu viel wird sang- und klanglos hingenommen in dieser Stadt: „Die Magie des Morgenlandes“ – der Untertitel der letzten Show „Orientalis“ – hat gegen die Magie des Geldes verloren, das Lachen und Staunen ist im Strom der Tränen untergegangen.

Ich seh’ sie noch sitzen, trinken und applaudieren, die Minister und Senatoren, die Landowskys und die ganze West-Berliner Society, allen voran Peter Schwenkow, in der einen Hand die Waldbühne, in der anderen dieses kleine, plüschige Varieté, bis er es ablegte und von Stund an nicht mehr kam. Und da blieben viele andere gleich mit weg. Vielleicht haben die hinter den Kulissen nicht immer den besten Sound getroffen und auf den Tischen nicht die richtigen Preise, vielleicht kamen die Busgäste zu spärlich, vielleicht fehlte der Humor, der Sex, der Pfiff, vielleicht sind Varieté-Stars einfach zu teuer geworden.

Aber da hätte man die Alarmglocken läuten sollen. Die vielgerühmte Kreativszene dieser Stadt ist quasi der Mittelstand der Unterhaltungsbranche, doch wo sind sie geblieben, all die Comedians, die mit ihren Soloprogrammen Geld machen? Und wo waren unsere Politiker beim Abschied? Hatten sie Worte des Trostes fürs Ensemble und fürs Publikum? Nix hatten sie. Keine Idee, nirgends. Ein dunkles Haus ruht sanft. Traurig. Lothar Heinke

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