zum Hauptinhalt

Kultur: Was machen wir heute?: Die Annahme verweigern

Neulich hat der Junge Post gekriegt. "Ist für mich", hat er gesagt.

Von Andreas Austilat

Neulich hat der Junge Post gekriegt. "Ist für mich", hat er gesagt. Logisch, stand ja sein Name drauf, hätte er nicht betonen müssen. Aber, er war wohl ein bisschen stolz darauf, inzwischen seine eigene Post zu kriegen.

"Und", habe ich ihn gefragt, "was steht drin?" Nicht, dass es mich etwas anginge, aber man interessiert sich ja doch. Es war ein Kettenbrief. Das kommt häufiger vor in einem Kinderleben. Meistens soll irgendein kleiner Mensch irgendwo auf der Welt mal richtig viel Post kriegen, oft geht es um einen Rekord, und immer habe ich den Verdacht, der Weltpostverband könnte dahinterstecken.

Dieser Brief, stand da zu lesen, ist 1986 in Australien gestartet worden. Er läuft seitdem ununterbrochen, und er soll ins Guinness-Buch der Rekorde. Und wenn unser Sohn nicht binnen vier Tagen sechs Kopien an sechs Kinder verschickt, dann ist die Kette gerissen. Schuld, hieß es im Postscriptum, wird dann er sein. Ganz allein.

"Oh je", sprach er da, "wem schick ich die?" Das war nicht leicht zu beantworten. Infrage kamen eigentlich nur die Kinder unserer eigenen Freunde, sofern sie in entlegenen Landesteilen wohnen. In seinem Bekanntenkreis hatten schon alle einen. Aber sollten wir das tun? Schließlich, wer mag schon Leute, die einem Kettenbriefe schicken?

Wir überlegten zwei Tage lang, dann kam der nächste Brief. Irgendwie regelwidrig. Jetzt waren es zwölf Kopien, die er zu versenden hatte, machte 13,20 Porto. Der Junge war ganz unglücklich.

Wir haben dann versucht, das Problem mathematisch anzugehen. Der Brief ist seit 15 Jahren unterwegs. Das sind 5475 Tage, Schalttage nicht mal mitgerechnet. Man stelle sich also vor, damals habe ein Kind sechs Briefe auf den Weg gebracht, die alle ihren Empfänger fanden. Das war der Tag X. Die sechs brachten nun ihrerseits jeder sechs Briefe auf den Weg, nach vier Tagen waren also 36 Briefe unterwegs und nach zwölf bereits 1296.

Nach 28 Tagen hätte rein theoretisch jeder zweite Einwohner Sydneys einen solchen Brief in den Händen halten können, nämlich genau 1 679 616. Vier Tage später muss schon jeder zweite Australier betroffen gewesen sein, immer vorausgesetzt, das Phänomen wäre noch auf den kleinen Kontinent beschränkt geblieben. Falls nicht, ist es auch egal, Australien hätte nun sowieso nicht mehr ausgereicht. Nach 40 Tagen wäre nämlich eine Lawine von über 362 Millionen Kopien um den Globus gegangen. Acht Tage später hätte es auch keine Rolle mehr gespielt, ob wirklich jeder nur einen Brief erhält, denn nach 48 Tagen müssen es schon über 13 Milliarden Kettenbriefe gewesen sein. Das reicht locker zweimal für die gesamte Erdbevölkerung. Nur wir, wir haben damals davon gar nichts mitgekriegt.

Da hat der Junge die Sache plötzlich viel leichter genommen. Trotzdem, eine Frage stellte er noch: "Wie viele Briefe das wohl bis heute wären, wenn die Kette wirklich gehalten hätte?" Tja, keine Ahnung. Oktilliarden vielleicht?

Zur Startseite