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Was machen wir heute?: Engel sehen

Wie ein Ostberlinerdie Stadt erleben kann

Von David Ensikat

Es ist zu spät, ich weiß. Die Paul-Klee-Ausstellung in der Nationalgalerie ist vorbei. Ich war aber auch nur kurz drin. Ich betrat die Galerie um 17 Uhr, um 18 Uhr schloss sie. Ab 17 Uhr 45 gaben im Fünfminutentakt die Lautsprecher knarzende Geräusche von sich, eine ursprünglich vielleicht glockenhelle Damenstimme, welche höflich die bevorstehende Schließung ankündigte, jedoch auf eine Weise verzerrt, die den Kuratoren als angemessen erschien angesichts der fortgesetzten Abstraktion im Werk Paul Klees.

Gegen 17 Uhr 50 befand ich mich auf Höhe des Bildes „Angelus novus“, über das Walter Benjamin schrieb: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt … Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Ich hatte das Zitat neben dem Bild gerade gelesen, es war 17 Uhr 55, da kamen sie: zwölf Ausstellungsaufpasser in schweigender Reihe, schwarz uniformiert, hinter sich gähnende Leere, vor sich stolpernde, stiebende Ausstellungsbesucher.

So machen sie es hier, so bekommen sie alle hinaus aus ihrer Galerie. Wagst du es, innezuhalten vor einem Bild, nähern sich dir die schwarzen Gestalten, je heiterer das Bild, desto finsterer ihr Blick, nähern sich langsam, doch stetig, und du weißt, hältst du länger inne, werden sie dich zermalmen unter ihren lackierten schwarzen Schuhen, lautlos und unerbittlich. Die Lautsprecher werden ihr Lied knarzen, die anderen Besucher werden sich nicht nach dir umdrehen, denn sie sind keine angeli novi, und du bist kein Trümmerhaufen, du bist gar nicht mehr da. Und die Aufpasser sind nicht der Fortschritt. Sie verkörpern den unerbittlichen Willen, die Galerie um 18 Uhr leer zu haben, mehr doch nun wirklich nicht. David Ensikat

Viele Paul-Klee-Bilder hängen im Museum Berggrün gegenüber dem Schloss Charlottenburg. Achtung, auch hier: Schließzeit 18 Uhr.

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