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Was machen wir heute?: Fremd sein

Wie ein Neuberliner die Stadt erleben kann.

Welche Winkel in Berlin als die düstersten gelten müssen – darüber streiten die Gelehrten. Für die einen ist es der Rollbergkiez in Neukölln, für die anderen der Soldiner Kiez in Wedding, für wieder andere Spandau.

Immer lauter, zumindest in meinem Umfeld, werden auch die Stimmen, die den ehemals aufstrebenden Stadtteil Prenzlauer Berg als finsteren Winkel bewerten: finster bürgerlich. Überbesorgte Eltern in ab Werk zerknitterter Markenkleidung steigen aus großräumigen, allradgetriebenen Fahrzeugen, Kinder an der Hand, die in Elektrosmog-Schutzanzügen stecken und aufgrund einer skandalösen Zwei in Mathe nun zum Lach-Therapeuten gebracht werden, der mit einer 25 Jahre jüngeren Schauspielerin ein Loft in den Choriner Höfen bewohnt, die von einem Münchner Immobilienmakler luxussaniert wurden, nachdem er mit herzlos geschickten Manipulationen Oma Krawuttke und ihren Waldi in das jeweils passende Heim hat verbringen lassen, von denen das eine mittlerweile von einem Gesundheitskonzern geschluckt wurde, dessen Geschäftsführer seine gewaltigen Gewinne in Clubs investiert, die in Prenzlauer Berg Touristen und vom Glauben abgefallene Einheimische mit seelenloser Elektromusik genau so beschallen, dass es zu leise wabert, um zu tanzen, und zu laut dröhnt, um sich zu unterhalten.

So zumindest beschreiben es jene Menschen, die mir raten, schleunigst in einen anderen Stadtteil zu ziehen. Aber fühle ich mich nicht eh fremd, egal ob unter Bürgerlichen oder Pennern, in Berlin überhaupt oder in meinem rheinländischen Heimatdorf? Und ist das Fremdsein in der Welt nicht das beste Mittel, den Blick zu schärfen für ihre traurigen Schönheiten und erhabenen Schrecken?

„Die Lebern der Anderen“ – ein entfremdeter Heimatabend Jan Koch (Schwabe) spielt Gitarre und singt Lieder, Anselm Neft (Rheinländer) liest aus seinem neuen Buch. Heute, Donnerstag um 21 Uhr im Klub der Republik, Pappelallee 81, Prenzlauer Berg, Eintritt: 2 Euro

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