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Was machen wir heute?: Im Dunkeln speisen

Ich wache auf und bin vor Müdigkeit gelähmt. Als hätte ich im Schlaf einer Meduse ins Auge geblickt.

Ich wache auf und bin vor Müdigkeit gelähmt. Als hätte ich im Schlaf einer Meduse ins Auge geblickt. Was für eine schlimme Nacht! Erst bin ich unverschuldet in ein Trinkgelage geraten, dann wirft gegen fünf Uhr früh jemand Silvesterböller in den Innenhof, und schließlich beginnen in den Morgenstunden diese unglaublichen Vögel Krach zu schlagen. Ich habe nirgendwo auf der Welt so aggressiv tschilpende Hinterhofspatzen gehört wie hier in Berlin. Widerliche Gangstarapper, allesamt!

Ich werde liegen bleiben. Ich werde gar nichts tun. Höchstens ein Pizzataxi anrufen und den Boten bitten, mich für einen Zuschlag zu füttern. Bei dem Gedanken fällt mir allerdings ein, dass ich heute Abend, in drei Stunden, zum Essen verabredet bin. Meine Lebensgeister kehren zurück, mit ihnen aber auch mein Problembewusstsein. Die junge Dame, mit der ich verabredet bin, ist ein Ausbund an Gewitztheit, Charme und Charakter. Erschreckenderweise ist auch ihre materiell greifbare Beschaffenheit derart knisternd, dass ich in ihrer Gegenwart hässliche Symptome der Erregung wie Stressflecken im Gesicht nicht vermeiden kann. Außerdem würde meine zerrüttete Erscheinung heute gegenüber ihrem Glanz noch ärger abfallen als sonst. Ihr abzusagen, halte ich beim jetzigen Stand unserer Bekanntschaft allerdings für unmöglich.

Wie immer, wenn ich nicht weiterweiß, betrachte ich die Hubbel der Raufasertapete. Man kann darin Dinge sehen und sie als eine Art Orakel begreifen. Sehe ich zum Beispiel einen Riesen mit Keule, kann das eigentlich nur Arbeit oder anderen Ärger bedeuten. Zierliche Feen mit Flügeln garantierten Spaß und Abwechslung, wenn auch flüchtig. Brüste und pralle Hintern sehe ich oft, leider hat das nicht viel zu bedeuten. Heute aber sehe ich nichts. Nur Buckel ohne Sinn. In dem Nichts aber wird ein Gedanke greifbar: Nichts sehen! – Geh mit ihr ins Dunkelrestaurant. Da kannst du aussehen, wie du willst, da kann sie aussehen, wie sie will. Aber pass auf, dass du nicht den Kellner küsst. Anselm Neft

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