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Was machen wir heute?: Kind und Arbeit vernachlässigen

Winter 1986, in der kleinen vogtländischen Stadt, in die wir seit Jahren in den Sommer- und Winterurlaub fahren, überrascht uns im Flur neben den Toiletten der berüchtigten Gaststätte „Vogtländische Schweiz“ ein brauner Schrank mit eingebauter Farbfernsehbildröhre. Eine monotone Melodie lockt uns magisch an.

Winter 1986, in der kleinen vogtländischen Stadt, in die wir seit Jahren in den Sommer- und Winterurlaub fahren, überrascht uns im Flur neben den Toiletten der berüchtigten Gaststätte „Vogtländische Schweiz“ ein brauner Schrank mit eingebauter Farbfernsehbildröhre. Eine monotone Melodie lockt uns magisch an. Während unsere Eltern stundenlang auf den Kellner warten, stehen wir im Flur und haben alles um uns vergessen, wir sind vollgepumpt mit Adrenalin.

Der Schrank, der das schafft, heißt „Polyplay“ und ist einer von 2000 Exemplaren des einzigen in der DDR hergestellten Videospielautomaten, entwickelt im Kombinat Polytechnik und Präzisionsgerätewerke Karl-Marx-Stadt. Ein Gerät kostet 23 000 Mark, und ich kann mir vorstellen, dass ich diese Summe auch in Spiele daran investiert habe. Wir hatten noch keinen C 64 und die ausrangierten Donkey-Kong-Automaten aus dem Westen, die es auf dem Rummel gab, waren fest in der Hand der Großen, die uns nie spielen ließen. Polyplay wurde in Urlaubsheimen aufgestellt, 50 Pfennig kostete ein Spiel. Man konnte zwischen acht Spielen wählen, sogar Pacman hatten sie nachprogrammiert, allerdings eine sozialistische Version mit Hase und Wolf.

Nun hat einer dieser namenlosen Heiligen des Internets Polyplay wiedererschaffen, und schon diese blubbernden Geräusche im Spiele-Auswahlmenü dringen mir in die Seele. Endlich kann ich spielen, so viel ich will, ohne mich zu ruinieren. Obwohl das relativ ist, denn wenn ich „nur mal kurz“ spielen will, ist schnell eine Stunde rum. Auch nach Tagen schaffe ich bei „Schießbude“ nicht mal ein Zehntel der besten Punktzahl aus der Highscore-Liste. Ich vernachlässige meine Arbeit und mein Kind, ich esse nicht mehr und schlafe nicht, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein Band von Gänsen vorbeiziehen, die mir meine Munition wegfressen. So wird das nichts mit dem neuen Roman. Das muss Honeckers Rache sein. Jochen Schmidt

DDR-Computerspiele findet man im Internet unter www.polyplay.de.

Jochen Schmidt

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