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Was machen wir heute?: Liliput suchen

Ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen, aber die Proportionen Berlins bleiben verstörend. Ich komme vom Land.

Ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen, aber die Proportionen Berlins bleiben verstörend. Ich komme vom Land. Meine Wiege stand zwischen Kuhweide und Kirche. Der Weg zum nächsten Dorf war so weit, wie der Weg vom S-Bahnhof Warschauer Straße zum U-Bahnhof-Warschauer Straße. In meinen Kindertagen konnte ich alle meine Freunde herbeirufen ohne telefonieren zu müssen. Nun muss ich telefonieren, um mich mit Menschen zu treffen, mit denen ich ein bisschen Freundschaft spielen kann. Echte Freundschaft fängt für mich als Landei aber erst da an, wo jemand unangemeldet an die Türe klopft und einen Schnaps verlangt, weil ihm sein frisiertes Mofa in den Bach gerauscht ist. Gut, auch in Berlin klingeln manchmal unangemeldet Leute, die gegen einen Schnaps nichts einzuwenden hätten, aber die kennen meinen Namen nicht und haben statt eines Mofahelms Zeitungen oder Werbezettel in der Hand.

Die weiten Wege zerstören in Berlin jedes spontane Treffen. Ständig müssen Termine gemacht werden. So terminiert man Freundschaften. Die weiten Wege zersetzen aber auch auf andere Weise die Seele. Zumindest die zarte Seele des Auenbewohners und Kaffkopfes. Die Berliner Wege sind gesäumt von titanischen Mietskasernen, die an endlos breiten Straßen in die Höhe wuchern. Wer hat sich das nur ausgedacht? Nur gut, dass Speer und Schicklgruber mit ihrer Architektur für komplexbeladene Vollphantasten nicht zum Zuge gekommen sind, sonst käme man sich in Berlin endgültig vor, wie Gulliver im Lande Brobdingnag.

Ich sehne mich nach Liliput. Das Nikolaiviertel mit seinen Gässchen beruhigt meine Nerven schon ein wenig. Um mich aber gegen das Niederschmetternde der größenwahnsinnigen Gebilde um mich her vollends zu wappnen, muss ich mindestens einmal im Jahr ins Legoland gehen und mir in der Abteilung „Miniland“ das Brandenburger Tor, den Reichstag und andere Prunkstücke in Kniehöhe angucken. Das Kleine macht den Menschen lieb. Das Große vernichtet ihn. Anselm Neft

www.legolanddiscoverycentre.com/berlin

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