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Was machen wir heute?: Nachjubeln

Es ist der Montagmorgen nach dem EM-Finale. Ich wache auf, und das Spiel fällt mir ein, und ich bin traurig.

Es ist der Montagmorgen nach dem EM-Finale. Ich wache auf, und das Spiel fällt mir ein, und ich bin traurig. Die halbe Nacht habe ich geträumt, ich sei das gesamte deutsche Team. Ich war Ballack mit der Kopfwunde, Lehmann mit den tüchtigen Paraden, ich war der von allen Fußballgöttern verlassene Kuranyi, der in der 60. Minute eingewechselt wurde, und was ich auch tat – es reichte nicht. Ich war auf jeder Position unterlegen, zu langsam, zu alt, zu fett, zu ängstlich. Aber es ist nicht nur dieser Traum, der mich niederdrückt. Mir fällt auch ein, dass die EM nun vorbei ist. Das strukturierende Element meiner Tage ist dahin. Mein Sommerflirtersatz, Fachsimpeln mit Fremden in Kneipen und Dönerbuden, gemeinsame Schreitherapie in Alois Torfabrik, jeden Abend gute Gründe Bier zu trinken und zu grölen – alles dahin.

Eine fiese Sommerdepression ist im Anmarsch. Ich fühle es genau. Die Leute auf den Straßen sind hässlich und dumm. Die Plakate grell und verlogen. Die Deutschlandfahnen an den Autos lächerlich und geschmacklos.

Ich schlurfe durch die Stadt. Eine Wüste aus Beton und nutzlos herumirrendem Fleisch. Dabei gerate ich vor das Freiluftkino im Volkspark Friedrichshain. Da eh alles sinnlos ist, löse ich vom letzten Geld eine Karte. „No Country for old men“, ein hochgelobter, mit vier Oscars ausgezeichneter Film. Er handelt von zwei Männern, die sich gegenseitig totschießen wollen. Wegen zwei Millionen Dollar. Der eine ist ein psychopathischer Killer und sieht aus wie der dunkle Zwilling von Dieter Hallervorden. Der Film ist der totale Quatsch. Mir ist nach zehn Minuten langweilig. Ich will Fußball sehen. Um mich zu trösten, brülle ich immer, wenn ein Statist erschossen wird, „Tor“. Wird es spannend, lasse ich ein langgezogenes „Schweiniiiiiii!“ gellen. Ein paar Leute drehen ihre Köpfe, aber keiner sagt etwas. In Berlin ist man Irre gewöhnt. Aber jetzt ist jeder Irre wieder für sich allein. Anselm Neft

Hier können Sie in entspannter Umgebung noch bis zum 20. Juli Public Viewing spielen: www.freiluftkino-berlin.de

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