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Was machen wir heute?: Schönes Sightseeing

Ständig stehen sie auf der Matte. Kaum dass man einmal Zeit hat, Menschen in Berlin kennenzulernen.

Ständig stehen sie auf der Matte. Kaum dass man einmal Zeit hat, Menschen in Berlin kennenzulernen. Die Eltern, die Geschwister, die alten Saufkumpane, die Ex-Freundin, die zufällig in Berlin zu tun hat. Eigentlich fragt meist niemand nach einer Stadtführung, aber ich sehe es doch in ihren Augen, an der Art, wie sie unbeholfen mit dem Stadtplan knistern, ich höre es doch aus diesem „Och, ich find mich schon alleine zurecht“ heraus.

Und dann gehe ich wieder einmal durch dieses doofe Tor, das nur in der Bierreklame gut aussieht. Dann stehe ich wieder in einer Schlange, um für 9,50 Euro mit einem feixenden Liftmann über 300 Meter in die Höhe zu fahren und von dort oben eine Stadt zu sehen, die so aussieht, wie Städte von oben eben aussehen, und meine Schwägerin fragt: „Wo ist jetzt noch mal die Straße, wo du wohnst?“

Und dann laufe ich durch die Friedrichstraße, die sich auch durch München, Hamburg oder Tokio ziehen könnte mit ihren Starbucks- und Subway-Läden. Und wieder einmal sacke ich auf der Wiese im Schatten des Doms zusammen, und meine Mutter guckt auf die Karte und sagt: „Diese Hackeschen Höfe müssen hier ganz in der Nähe sein.“ „Es reicht“, brülle ich. „Wir steigen jetzt in die U5 und fahren zum Frankfurter Tor und von dort geht es zum RAW-Tempel!“ „Ein Tempel?“ fragt meine Mutter. „Das klingt doch gut!“

Ich werde wieder munter als wir H 4-World, die Hartz-IV-Arena erreichen. Eine Fabrikanlage voller Graffiti, Tonnen, in denen Feuer brennen, Wohnwagen, aus denen verschlafene Menschen herauswanken, einer Volksküche mit Kulturprogramm und günstiger Bierverköstigung. Vielleicht bleiben wir gleich bis abends und schauen uns Improtheater oder die Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ an.

Als ich am Ende des Tages die glücklichen Gesichter meiner Verwandschaft sehe, frage ich mich, warum ich je in einer Schlange gestanden habe, um mit einem feixenden Liftmann in die Luft zu gehen. Anselm Neft

RAW-Tempel, Revaler Straße 99, Internet: www.raw-tempel.de

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