zum Hauptinhalt

Was machen wir heute?: Souverän werden

Meine ersten Tage als Neuberliner habe ich in Moabit verbracht. Österreichisch ausgesprochen klingt das wie „morbid“.

Meine ersten Tage als Neuberliner habe ich in Moabit verbracht. Österreichisch ausgesprochen klingt das wie „morbid“. Dort fiel mein Blick auf eine abgehackte Hand. Mannshoch und aus Metall stand sie am Straßenrand. Ein Kunstwerk. Dass Berlin mal durch eine Mauer zerschnitten war, wusste ich. Auch von den gebrochenen Lebensläufen vieler Berliner hatte ich gehört. Wahrscheinlich ist die Stahlklaue also ein Sinnbild für meine neue Heimatstadt, dachte ich. Sie wirkte mächtig, bedrohlich, als wollte sie mich zermalmen. Ob ich hart genug sein würde für diese Stadt?

Tapfer radelte ich weiter, und erreichte die Siegessäule. Hochkonzentriert umradelte ich sie: Wo war die Abzweigung nach Kreuzberg? Nach der dritten Runde bog ich beherzt ab. In die Straße, aus der ich gekommen war. Wahrscheinlich soll die Siegessäule an eine glorreiche Schlacht erinnern. Für mich wird sie immer ein Symbol für das Scheitern bleiben.

Seit jenem Tag ist viel Wasser den Landwehrkanal hinunter geflossen, und ich habe dazugelernt. Neulich war ich in Moabit eingeladen, in der WG, wo ich meine ersten Berlin-Tage verbracht hatte. Die Stahlhand am Straßenrand ist in Wahrheit viel kleiner als in meiner Erinnerung, fiel mir auf. Ich überlegte gar, kurz vom Velo zu steigen, um sie zu streicheln.

Mein Verhältnis zur modernen Kunst hat sich entspannt, seit ich hier lebe. Das liegt nicht zuletzt an Hanno Rauterberg. In seinem Buch „Und das ist Kunst?!“ vermittelt er Laien wie mir das Handwerkszeug, um sich lustvoll und selbstbewusst in dieser bizarren Parallelwelt zu tummeln. Ein Werk, das Orientierung bietet.

Im Berliner Straßenverkehr komme ich mittlerweile ohne einen solchen Leitfaden zurecht. An der Siegessäule wählte ich auf dem Rückweg aus Moabit souverän die Abzweigung ins heimatliche Kreuzberg. Erst in den frühen Morgenstunden hielt ich erschöpft inne. Irgendwo im tiefsten Wilmersdorf. Es war zum Händeabhacken! Till Hein

Klug, handfest und unterhaltsam: Hanno Rauterberg: „Und das ist Kunst?! - Eine Qualitätsprüfung“; S. Fischer 2007; 16,90 Euro.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false