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Was machen wir heute?: Sprühen

Im Kino Krokodil war der Film „Auguststraße“ zu sehen, eine Doku von 1979, in der man Berlin-Mitte nicht wiedererkannte, weil die Straßen noch den Kindern mit ihren Fahrrädern gehörten, weil man durch Baulücken den Himmel sah, und weil die Brandmauern noch nicht unter Werbetafeln verschwunden waren. Wie schnell man das alles vergessen hat!

Im Kino Krokodil war der Film „Auguststraße“ zu sehen, eine Doku von 1979, in der man Berlin-Mitte nicht wiedererkannte, weil die Straßen noch den Kindern mit ihren Fahrrädern gehörten, weil man durch Baulücken den Himmel sah, und weil die Brandmauern noch nicht unter Werbetafeln verschwunden waren. Wie schnell man das alles vergessen hat! Man trainiert sich ja heute an, wegzugucken, während man im Osten genau hinsehen musste, um in den Auslagen nichts zu verpassen. Wenn man gelernt hat, die Gegenwart der Werbung zu verdrängen, fallen einem auch Graffiti nur auf, wenn man darauf achtet.

Die Aggressivität und der Aufwand, mit dem der Staat Sprayern nachsetzt, erinnert an die DDR. Warum wird so viel Geld dafür ausgegeben, Graffiti zu verhindern, wenn man andererseits große Teile des öffentlichen Raums an die Werbung verkauft? Marx hat ja auf die Dialektik von Verbrechen und Justiz hingewiesen: Ohne Verbrecher wären die Richter arbeitslos. Ebenso wären ohne den Sprayer viele Reinigungsfirmen weniger profitabel, und in der Szene munkelt man von Politikern, die an der Entfernung von Graffiti mitverdienen, und die einen Sprayerstreik überhaupt nicht begrüßen würden.

Der Sprayer erlebt schon früh die Zwänge einer Künstlerexistenz: In zwei Jahren kann man schon veraltet sein; soll man legal und kommerziell werden, oder bei seinen Wurzeln bleiben? Man braucht das Publikum, man bekommt keinen Ruhm, wenn man in einer Provinzstadt sprüht. Aber müsste es nicht so sein, dass man zu den großen Graffitti- Künstlern reist, wie zu Pina Bausch nach Wuppertal? Im Grunde macht der Sprayer Werbung für seinen Namen, auf einem Markt, der schon alles gesehen hat. Genau wie ein Werbetexter versucht er, mit Buchstaben aufzufallen. Aber er mietet die Orte nicht, sondern erobert sie mit möglichst großem Risiko. Manche mögen sich über Sprayer ärgern, mir machen sie Freude, schon weil sie mir nichts verkaufen wollen. Jochen Schmidt

www.graffitimuseum.de. Noch bis heute, 26. März: Graffiti-Ausstellung im Ballhaus Ost.

Jochen Schmidt

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