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Was machen wir heute?: Von fremden Tellern essen

Um sich restlos davon zu überzeugen, dass der Mensch nicht fürs Glück gemacht ist, empfiehlt sich ein Blick auf a) die Scheidungszahlen oder b) ins Restaurant um die Ecke. Um bei Beispiel b) zu bleiben: Offenbar müssen Menschen nicht nur regelmäßig Nahrung zu sich nehmen, sondern sie müssen auch, sobald sie diesem Bedürfnis in größeren sozialen Zusammenhängen, zum Beispiel im Restaurant, nachgehen, geradezu zwanghaft überprüfen, ob ein anderer nicht vielleicht die bessere Nahrung abbekommen hat.

Um sich restlos davon zu überzeugen, dass der Mensch nicht fürs Glück gemacht ist, empfiehlt sich ein Blick auf a) die Scheidungszahlen oder b) ins Restaurant um die Ecke. Um bei Beispiel b) zu bleiben: Offenbar müssen Menschen nicht nur regelmäßig Nahrung zu sich nehmen, sondern sie müssen auch, sobald sie diesem Bedürfnis in größeren sozialen Zusammenhängen, zum Beispiel im Restaurant, nachgehen, geradezu zwanghaft überprüfen, ob ein anderer nicht vielleicht die bessere Nahrung abbekommen hat. Das Essen ist kaum serviert, da haben sie ihre Gabel bereits auf einem fremden Teller platziert, und die Frage „Ich darf doch mal probieren?“ können sie nur noch nuscheln, denn mit vollem Mund spricht es sich nicht gut.

Warum das Essen auf fremden Teller stets attraktiver erscheint als das auf dem eigenen, erklärt die Reaktanztheorie. Menschen brauchen Freiheit, und kaum fürchten sie, die ihre sei eingeschränkt, und sei es durch eine Entscheidung, die sie selbst getroffen haben, erscheint die verworfene Möglichkeit umso reizvoller. Das stört in der Liebe und im Restaurant: Statt Haxe hat man Gulasch und statt Sonja doch Anna-Lena gewählt, die Freiheit ist damit verwirkt, die eliminierte Alternative – Sonja, die mit einem anderen fortgeht, das Gulasch, das in den Mund eines anderen wandert – wird umgehend aufgewertet, und schon hat man sich sein Unglück erfolgreich konstruiert.

Einen Ort habe ich gefunden, an dem diese vermaledeite Reaktanz einem nicht in die Quere kommt. Im Probiermahl in der Dortmunder Straße gibt es ganze Gerichte in Probierportionen, gedünstetes Kabeljaufilet mit Balsamico-Honig-Linsen und Kartoffelpüree, Spinat-Feta-Bällchen mit Mandelreis und Tomaten-Gemüseragout – alles bekommt man häppchenweise. Als Lebenskonzept ist das nur bedingt tauglich, für einen Abend aber sehr zu empfehlen. Verena Friederike Hasel

Probiermahl, Dortmunder Straße 9 in Berlin-Tiergarten, täglich geöffnet von 16 Uhr bis 1 Uhr, Reservierungen telefonisch unter 030- 399 69 69

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