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Kultur: Was machen wir heute?: Vorurteile überprüfen

In meiner Straße lebt ein Mann, vor dem ich mich fürchte. Er trägt ausschließlich schwarzes Leder, wuchtige Stiefel und donnert mit seinem Motorrad über den Asphalt, dass den Hunden das Trommelfell platzt.

In meiner Straße lebt ein Mann, vor dem ich mich fürchte. Er trägt ausschließlich schwarzes Leder, wuchtige Stiefel und donnert mit seinem Motorrad über den Asphalt, dass den Hunden das Trommelfell platzt. Seine Haare sind lang und wirr, sein Gang ist schwer, sein Blick eine ständige Drohung. Spät abends sehe ich ihn durch die Fenster der Eckkneipe, wie er mit Freunden Hochprozentiges in sich hineinschüttet. Zwischendurch schüttelt er die Faust in der Luft, so wie es die Gorillas tun. Dann läuft mir ein eisgekühlter Doppelkorn über den Rücken.

Diesen wilden und gefährlich aussehenden Mann traf ich neulich beim Baby-Trödel. Er hatte mit seiner Gattin einen Stand dort und verkaufte Strampler und Nuckelflaschen, das Töchterlein auf den Schultern. Es war ein rührender Anblick. Ich bin sofort in mich gegangen und habe meine Vorurteile überprüft. Was habe ich gegen Gorillas? Wieso habe ich dem Mann kein Kind zugetraut? Und warum halte ich, halten wir alle Menschen mit Kindern für harmlos? Der Leder-Mann hat, davon bin ich jetzt überzeugt, ein gutes, sanftes Herz, wo immer es sich verstecken mag, im Kragen vielleicht. Aber er ist ja nur ein zufälliges Beispiel. Wieso wirkt auch ein und derselbe Kollege ohne Kind so cool und, sobald er sein Kind dabei hat, so menschlich, verletzbar und irgendwie schmuddelig? Es ist der Baby-Effekt, auf den ja auch Diktatoren seit jeher schwören. Man setze ein Baby auf einen Diktator, und schon wirkt er butterweich. Babys sind die besseren Menschen, und sie färben ab.

Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so ist ein Baby-Trödel die harmloseste Veranstaltung auf der Welt. Überall Kinderwagen, darin unschuldig leuchtende Babys, überall stillende und Tee trinkende Mütter, überall Stände mit aufgehäuften Bodys, Stofftieren, Ratgebern, Pullöverchen, Schuhen, Playmobil-Figuren und anderem, was man zur Aufzucht der besseren Menschen braucht. Je nach Bezirk und Eltern findet man auf den Trödelmärkten alles, von kaum gebrauchten Designerstücken, bis hin zu fadenscheinigen Klamotten, die offenbar ein ganzer Kindergarten aufgetragen hat. Böse Menschen gibt es auf Baby-Trödelmärkten nicht, wohl aber Mütter, die Ware mit versteckten Löchern verkaufen. Andere verlangen unter den missbilligenden Blicken ihrer Babys überhöhte Summen. Wieder andere geben ihre Sachen mit einem melancholischen Lächeln zu Spottpreisen weg. So ist die Welt! Gut und schlecht zugleich.

Da ich beim letzten Trödel so mit Philosophieren beschäftigt war, habe ich im Gewühl Kind und Kindsvater verloren. Als wir uns am Ausgang wieder trafen, hatten wir beide für ein paar Mark dasselbe gekauft, Gummistiefel, Latzhosen und Fahrradhelme. Das Kind hat sich, wie wir hinterher feststellten, vom Buggy aus auch einiges ausgesucht, aber nicht dafür bezahlt. Ach unser süßes harmloses Baby! Es hat sich bestimmt nichts dabei gedacht.

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