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Was machen wir heute?: West-Berlin verlassen

Ich wollte kein West-Berliner mehr sein. Nach den Jubiläumseinheitsfeiern Anfang des Monats hatte ich das Gefühl, endlich Gesamtberliner sein zu müssen.

Ich wollte kein West-Berliner mehr sein. Nach den Jubiläumseinheitsfeiern Anfang des Monats hatte ich das Gefühl, endlich Gesamtberliner sein zu müssen. Gerade erst war ich am frühen Nachmittag im Nikolaiviertel unterwegs, unserer gemeinsamen „Altstadt“. Während meine Frau für längere Zeit in einem Modeladen verschwand, starrte ich mit etlichen Touristen auf die ausgestellten Ansichtskarten. Auf einer Postkarte war das berühmte Motiv mit dem Schild „Achtung, Sie verlassen jetzt West-Berlin“ zu lesen. Ich überlegte, ob ich der Tagesspiegel-Redaktion diesen Gruß schicken sollte. Als stille Botschaft: Auch ich verlasse jetzt West-Berlin!!! Ich wollte kein West-Berliner in dieser Rubrik mehr sein!

Haben wir Berliner uns nicht längst angeglichen, auch in der Zurückhaltung, mit der wir das schöne Nikolaiviertel allein den Touristen überlassen? Irgendwann kam meine Frau aus dem Laden, sie hatte einen witzig aussehenden Wintermantel gekauft, und wir schlenderten gut gelaunt in ein nahes Restaurant, das voller Touristen war. Aber eine dicke, nicht weltstadtgerechte Staubschicht fiel uns auf. Wir schämten uns als Gesamtberliner. Dann besuchten wir ein paar Schritte weiter ein anderes Restaurant und bestellten Kirschkuchen. Als er serviert wurde, war er so warm, dass sofort die unbestellte Schlagsahne verlief. Ungenießbar. „Wollten Sie den Kuchen etwa kalt?“ fragte die junge Bedienung pikiert. „Wie damals im Osten“, flüsterte ich. Dann schlenderten wir leicht missgestimmt am Roten Rathaus vorbei zum Alexanderplatz, Trinker säumten den Weg, Müll stapelte sich und in den Gebüschen ringsum gab es ein merkwürdiges Gewusel. Ich dachte an die Umgebung von Rathäusern in anderen großen Städten und schämte mich als Gesamtberliner. Mit dem M48er Bus rollten wir gern zurück in die entgegengesetzte Richtung. Das mit der Ansichtskarte – das überlege ich mir noch mal. Christian Van Lessen

Der M48 zwischen Mitte und Zehlendorf ist meine Lieblingsbuslinie und zeigt fast alle Facetten der Stadt. Im Ephraim-Palais, Nikolaiviertel, zeigen Fotos „Berlins vergessene Mitte“.

Christian Van Lessen

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