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Was machen wir heute?: Zur Post gehen

Fräulein Schneider lebt! Bis vor kurzem dachte ich, dass das eine reine Kunstfigur der Geschwister Pfister ist.

Fräulein Schneider lebt! Bis vor kurzem dachte ich, dass das eine reine Kunstfigur der Geschwister Pfister ist. Aber jetzt ist sie mir im richtigen Leben begegnet.

Meine alte Post in der Geisbergstraße hat nämlich vor kurzem zugemacht, ein Schicksal, das derzeit viele Postämter trifft, sie sind eine aussterbende Art. In neuer, schicker Form hat sie jetzt am fernen Wittenbergplatz als „Finanzcenter“ wieder aufgemacht, in der der Postkunde allenfalls geduldet wird. Beim Einzug haben sie glatt den Briefkasten vergessen. Über 20 Jahre lang bin ich zur alten Post gegangen, häufiger als zum Bäcker, Berge von Päckchen und Briefen habe ich dorthin geschleppt. Aber glauben Sie, ich hätte dafür auch nur ein einziges Lächeln des Erkennens geerntet? Nix. Ungerührt bis miesgrämig haben sie mich empfangen, das Einzige, was sie mich vorwurfsvoll gefragt haben, war, wo ich denn mein Konto hätte, so dass mich bei jedem Kauf einer 55-Cent-Marke das Gefühl überfiel, ich müsste mich für mein Sparkassen-Konto entschuldigen und zur Buße mindestens den Strom von der Post beziehen. Ich will aber keinen Strom von der Post, ich will Briefmarken.

Als ich dann eines Tages eine Postfahne am kleinen Lotto-Zeitungsladen bei mir ums Eck entdeckte, bin ich sofort hineingestürzt. Und da habe ich es entdeckt, mein Fräulein Schneider. Es redet haargenau so wie die Schwester Pfister, mit rollendem R und offenen Vokalen, wie jene trägt sie auch ihr Herz auf der Zunge. Und sie hat ein Herz, so groß, wie ihr Laden winzig ist. Da gibt’s die „Neue Zürcher Zeitung“ und Rotkäppchensekt, Turnschuhe und Aschenbecher, Filterkaffee, Wackelpudel und Kugelschreiber. In einer Ecke befindet sich nun die Post, so groß wie früher meine Kinderpost, aber die ist so echt wie mein Fräulein Schneider, das mich beim zweiten Mal wie einen Stammgast behandelt, und das alles kann, reden, lächeln, Porto ausrechnen. Nach einem Tag Schulung. Und ich muss nicht mal Schlange stehen. Susanne Kippenberger

Der Laden (soweit ich sehen kann, ohne Namen und Hausnummer) befindet sich an der Motzstraße, Ecke Martin-Luther-Straße.

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