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Kultur: Was sind eigentlich genau "cultural studies"? Eine Gebrauchsanweisung für Andersdenkende in drei Bänden

Die ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre waren in Großbritannien eine Zeit der intellektuellen Revision. Zwischen 1957 und 1963 erschienen drei Werke, die in politischer und wissenschaftlicher Hinsicht einiges auslösten: Ihre Autoren waren engagiert links und nicht an Universitäten beschäftigt, sondern in der Erwachsenenbildung.

Die ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre waren in Großbritannien eine Zeit der intellektuellen Revision. Zwischen 1957 und 1963 erschienen drei Werke, die in politischer und wissenschaftlicher Hinsicht einiges auslösten: Ihre Autoren waren engagiert links und nicht an Universitäten beschäftigt, sondern in der Erwachsenenbildung. Alle drei reagierten auf eine mehr oder minder weltpolitische Krise linker Theorie und Praxis. Der Stalinismus war bankrott, die Sowjetunion hatte gegen die rebellierenden Ungarn ihre hässliche Fratze gezeigt. Doch trotzig frönte die Kommunistische Partei der Insel weiter ihrem hergebrachten Dogmatismus. Darüber hinaus setzte sich im Westen eine neue, seltsam "klassenlose" Konsumkultur durch - ein Phänomen, das mit den auf Ökonomie ausgerichteten Methoden des Marxismus nicht mehr richtig zu begreifen war.

Und so kreisten Richard Hoggarts "Vom Gebrauch der Lesefähigkeit", "Kultur und Gesellschaft" von Raymond Williams und Edward P. Thompsons "Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse" bei allen Unterschieden vor allem um zwei Punkte. Zum einen wandten sie sich gegen eine Perspektive, welche die Frauen und Männer der Arbeiterklasse immer nur als Opfer der Verhältnisse sehen wollte und betonten dagegen das aktive Element der "gelebten Erfahrung". Zum anderen wollten sie gegen den herrschenden linken "Ökonomismus" die Bedeutung von Kultur hervorheben. Dabei hingen die beiden Punkte zusammen, denn unter Kultur verstanden alle drei nicht nur Hochkultur, sondern die "gesamte Lebensweise" der gewöhnlich verachteten Masse. Insofern schreckte der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammende Hoggart auch nicht vor der Beschäftigung mit Groschenromanen zurück. Es schien ihm nutzlos, über diese Erzeugnisse herzuziehen - ihn interessierten die Beschreibungen von Lebensumständen und die vermittelten Werte.

Zusammen mit einem jungen Einwanderer jamaikanischer Herkunft namens Stuart Hall begründeten diese drei die sogenannte "Neue Linke" in Großbritannien und gleichzeitig auch ein Forschungsfeld mit der Bezeichnung Cultural Studies. Während diese Studien sich in Großbritannien und später auch den USA als immens fruchtbar erwiesen und an den dortigen Universitäten wohl etabliert sind, blieb die deutsche Rezeption auf kleine Kreise beschränkt. Im Grunde gibt es hierzulande nicht einmal eine angemessene Übersetzung des Begriffs. Cultural Studies sind weder mit der traditionellen deutschen Kulturwissenschaft wirklich vergleichbar noch mit der linken Kulturkritik im Gefolge von Adorno und Horkheimer. Ihre meisten Schlüsseltexte der Studies wurden entweder nicht übersetzt oder verschwanden kurz nach der Übersetzung in den siebziger Jahren aus dem Buchhandel.

Doch nun sind drei Sammelbände erschienen, die diesem Mangel Abhilfe schaffen wollen. Der Soziologe Udo Göttlich und der Kulturwissenschaftler Carsten Winter haben zusammen mit dem britischen Cultural Studies-Professor Roger Bromley "Grundlagentexte zur Einführung" herausgegeben. Grundlagen schaffen möchte auch der von den Aachener Soziologen Karl H. Hörning und Rainer Winter zusammengestellte Band "Widerspenstige Kulturen - Cultural Studies als Herausforderung". Eine weitere Textsammlung hat der in Köln lebende Lektor Jan Engelmann unter dem spezifischeren Titel "Die kleinen Unterschiede" zusammengestellt.

Aber was sind nun genau Cultural Studies? Vergeblich sucht man in den drei Bänden nach einer Definition Der dominante Gegenstand ist sicher die "populäre" Kultur, wobei diese keinesfalls mit Massenkultur verwechselt werden sollte. Als Hoggart in den Fünfzigern die "populäre" Kultur der Arbeiter untersuchte, beklagte er sich bitterlich über deren langsame Auflösung zugunsten der aufkommenden US-Massenkultur. Erst später entdeckten andere Forscher in den Phänomenen der britischen Jugendkultur wie etwa den "Mods", dass die Unterschicht auch von der standardisierten Medienkultur einen "populären" Gebrauch machen konnte - also sich die Produkte aktiv und "kreativ" aneignete und sie als Ausdruck ihrer Lebensumstände und auch ihres Protestes verwendete. Dadurch erweiterte sich dann das Spektrum. Zudem verbreiterte sich der Horizont der Studies auch demographisch. Während die Untersuchungen zunächst auf Arbeiter beschränkt blieben, sorgte zumal die Kritik von feministischen Intellektuellen wie Angela McRobbie und Minderheitenangehörigen wie dem erwähnten Hall oder Paul Gilroy dafür, dass die "gelebten Erfahrungen" aller Marginalisierten in den Blick kamen.

Doch während der siebziger Jahre geriet die Fixierung der Studies auf "Erfahrungen" selbst unter Beschuss. Vor allem mit Hilfe des Strukturalismus von Louis Althusser forderten eine Reihe der Cultural-Studies-Vertreter wieder eine intensivere Beschäftigung mit der herrschenden Ideologie. Als Stuart Hall 1968 die Leitung des Centre for Contemporary Cultural Studies übernahm, welches Hoggart 1963 in Birmingham gegründet hatte, befasste man sich dort immer wieder mit dem Thema, wie sich unter den Bedingungen der Mediengesellschaft Herrschaft organisiert. In Sammelbänden des Centre ging es daher etwa um das Zusammenspiel zwischen Kriminalitätsberichterstattung und polizeilicher Aufrüstung, um Rassismus und Neue Rechte, um die Politik des Thatcherismus. Heute ist das Feld der Cultural Studies äußerst vielfältig, vor allem von Auseinandersetzungen geprägt. Umstritten sind etwa die Auffassungen John Fiskes, der standhaft in nahezu jeder Art des Vergnügens der "kleinen Leute" an den Produkten der Massenkultur eine subversive Kraft aufspürt. In "Die kleinen Unterschiede" analysiert er die englischen Pendants zu "Der Preis ist heiß" oder "Herzblatt" unter dem Aspekt der weiblichen Emanzipation: In der einen Show werde lautstark ein Wissen gefeiert (nämlich jenes über die Preise der Waren), welchem gewöhnlich jede Anerkennung verwehrt bleibe, in der anderen werde "weibliche Sexualität" von der Verpflichtung auf Ehe und Tugendhaftigkeit befreit. Gleich danach findet man im gleichen Band einen Text von Angela McRobbie über "Feminismus, Mode und Konsum", wo Fiskes Begeisterung so gar nicht geteilt wird. McRobbie kritisiert die einseitige Konzentration auf den Konsum als einziges Mittel zur Befreiung und befasst sich mit der Rolle von Frauen in der Produktion.

Zweifelsohne decken die drei Bände ein Spektrum der Diskussionen rund um Cultural Studies ab. Die Zusammenstellung der "Grundlagentexte" ist sorgfältig und sinnvoll: Der Band verschafft vor allem akademisch Interessierten einen methodischen Überblick, wobei der Schwerpunkt auf dem Aspekt der Mediennutzung liegt. Auch "Widerspenstige Kulturen" bezieht sich eher auf die akademische Diskussion. Grundsätzlich wird erörtert, welche Rolle die Studies für die hiesige Soziologie spielen könnten. Zudem liefert Herausgeber Winter eine kompakte Geschichte der Cultural Studies in Großbritannien. Der von Engelmann herausgegebene "Reader" ist weniger zusammenhängend, dafür aktueller: Das Buch soll eine Einführung sein und zugleich laufende Diskussionen über kulturelle Identität aufgreifen. In den Orientierungen der Bände liegen freilich auch bestimmte Verkürzungen. So schielt "Die kleinen Unterschiede" trotz der komplizierten Texte auf ein breiteres Publikum. Insofern wirken Cultural Studies in diesem Band ein wenig wie ein glamouröses Instrument aus Übersee, das dem Medienarbeiter die Navigation durch den Kulturdschungel erleichtern soll. "Gebrauchsanweisung für Andersdenkende" heißt es in Engelmanns Einleitung.

Die "Grundlagentexte" und "Widerspenstige Kulturen" dagegen sind darauf gerichtet, den Ansatz der Cultural Studies dem hiesigen Wissenschaftsbetrieb schmackhaft zu machen. Zweifelsohne benötigt man in Deutschland eine Auseinandersetzung mit diesem Ansatz - weil das Nachdenken über populäre Kultur und Mediennutzung hierzulande weiterhin äußerst traditionell erscheint und die Mittelschichtsperspektive der Forscher kaum hinterfragt wird. Allerdings besteht bei diesen Einführungen die Gefahr, dass ein zentrales Moment der Studies auf der Strecke bleibt: Die Parteilichkeit des Standpunktes und die politische Einmischung an der Seite der Marginalisierten. So wundert es nicht, dass nur Rainer Winter darauf hinweist, dass die Entstehung der Cultural Studies ein Teil der Geschichte der britischen "Neuen Linken" war.Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.): Cultural Studies - Grundlagentexte zur Einführung. ZuKlampen. 390 S. , 48 DM. - Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede - Der Cultural Studies-Reader. Campus, 318 S. . 39,80 DM. - Karl H. Hörnig, Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen - Cultural Studies als Herausforderung. Suhrkamp. 574 S. , 32,80 DM.

Mark Terkessides

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