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Kultur: Was vom Rausch noch übrig bleibt

Unterkühlt: Jossi Wielers winterliche „Bakchen“ an den Münchner Kammerspielen

Winterzeit. Verschneite Tannen vor schneebedecktem Hang. Ein klinisch weißes Apartment. Im Dunkeln zwei Männer im Wintermantel: der alte König mit Pelzhut, der blinde Seher mit Baskenmütze. Später werden sie sich mühsam nach unten hangeln. König Pentheus’ Privatissimum hängt hoch im Fels. Die beiden wissen, was zu tun ist: Der fremde Gott muss anerkannt werden; sie wollen mitmachen bei den ausgelassenen Ritualen. Teiresias (Hans Kremer) sieht aus wie ein netter Buchhalter der Zukunft, Kadmos (Peter Brombacher) ist ein tapsiger, gewitzter Bär. Doch wo sind sie: in Theben, im deutschen Winter?

Jäh geht das Licht an. Auftritt Pentheus mit Adjutant, direkt vom Airport. André Jung ist Pentheus, kahl geschoren, bleich, die Augen kalt. Penibel hängt er seine schwarzen Anzüge auf, bevor er die beiden Alten fertigmacht, von draußen beäugt von zwei merkwürdigen Mädchenwesen. Das sind die Bakchen, unsichtbar für alle, die Dionysos’ Göttlichkeit noch nicht erfahren haben. Sie schieben die Wände zur Seite, treten ein, als kämen sie vom anderen Stern. Ein befremdlicher Anfang von Euripides’ über 2000 Jahre altes Stück „Die Bakchen“. Kein Requisit zielt auf die griechische Göttersage.

Gebannt verfolgt man André Jung bei seinen Ordnungsgesten, überrascht von jedem Laut, Vorzeichen von Pentheus’ späterer Wandlung: ein Zwangsneurotiker im Einzimmerloft (Bühne: Jens Kilian). Die Kleidung schwarz, die Wohnung weiß, schwarz-weiß auch seine Denkungsart. Er verhöhnt seinen aufbruchsbereiten Großvater Kadmos, genüsslich stößt er grausame Drohungen aus gegen den fremden Gott, der sich in sein Revier drängt, sein Theben. Schon ist er da, schüttere Locken, graue Miene, stattlich nur der Schlangenledermantel: Dionysos. Die beiden Bakchen werfen begehrliche Blicke. Robert Hunger-Bühler sieht aus wie ein Rockstar, abgehalftert, ausgebrannt. Pentheus und er duellieren sich mit Worten, in der wohltuend frei schwingenden Übertragung von Kurt Steinmann.

Dionysos schlägt sich gut, gewinnt gegen den Technokraten. Die Mädchen machen sich an ihn heran, der Bote (Fochen Noch) bekommt eine Fellatio verpasst, was die schrecklichen Kostüme vorübergehend sinnfällig macht: Wiebke Puls rammt sich hinein in den Unterleib des Boten – eine Riesenlarve, ein ekler Wurm. Sie steckt in einem fleischfarbenen Overall, mit schenkelhohen Schlangenlederstiefeln. Die zweite Bakche (Sylvana Krappatsch) trägt ebensolche Stiefel zum rosa Courrègekleidchen. Die große Blonde, die kleine Schwarze: ein grotesk ungleiches Paar. Veruschka und Mary Quant? Die Restposten einer Verehrerinnenschar aus den späten Sechzigern, als man noch glaubte an Rausch und Ekstase? Und Dionysos, ein Rolling Stone?

Ein deprimierender Zeitbezug. PostYuppie gegen Postrocker statt Technokratie gegen Naturgewalt, König gegen Gott. Beide bringen Verderben, doch auch ihre Versöhnung würde nichts bringen. Inszeniert Wieler hier Nihilismus pur? Oder sollen wir Mitleid haben mit Pentheus und Königsmutter Agaue, mit Altkönig Kadmos, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie Dionysos’ Göttlichkeit nicht anerkannten. Die Götter sind klein und gemein wie die Menschen. Dionysos verpasst Agaue prompt einen Fußtritt, als sie sich deshalb beschwert.

Wie rührend in seiner Einfalt wird doch der verführte Pentheus, wenn er Weiberkleider anlegt, um die angeblich zügellosen Ausschweifungen der Mänaden mit eigenen Augen zu sehen. Legt sich nicht ein feiner Nebelschleier über die Szene. Soll heißen: Wir stehen im Nebel und erkennen nichts? Fragen über Fragen. Nirgends zu erkennen auch der dionysische Rausch, der doch den eigentlichen Gegensatz bildet zu Pentheus’ Vernunftsgebaren. Soll der Botenbericht von Agaues schauriger Tat, als sie ihren Sohn Pentheus im Wahn für einen Löwen hält und mit bloßen Händen zerreißt, so etwas wie ein Gewalt-Porno sein? Der blutüberströmte Bote ächzt, während die zwei Damen vor ihm masturbieren. Schale Lust, perverse, einsame Sexfreuden, prototypisch für eine Gesellschaft mit den Göttern Kapital und Technik, der Libido entfremdet und der Natur?

Wie soll das bloß weitergehen? Indem der wunderbaren Hildegard Schmahl als Agaue etwas Unerhörtes gelingt: Sie spielt eine im Wahn befangene Clownin. Triumphierend tritt sie auf mit dem Kopf ihres Sohnes, den sie für ein Löwenhaupt hält, verschmiert, trotzig, komisch. Wieder ahnt man, wo die Inszenierung hinwollte: in eine Balance zwischen nuancierter Beiläufigkeit und kühlem Schrecken. Die alte, widersprüchliche Geschichte sollte mit dem Heute verschmelzen.

Wenn die beiden, man kann wohl sagen, feindlichen Münchner Intendanten Dieter Dorn und Frank Baumbauer beweisen wollten, wie verschieden zwei Inszenierungen desselben Stückes sein können, kurz nacheinander am Residenztheater und an den Kammerspielen: Beweisführung geglückt. Und doch haben die Aufführungen etwas gemein: Beide zerfallen in unterschiedliche Teile und Stile. So verhalten und atmosphärisch Jossi Wielers „Bakchen“ beginnen, so konstruiert und konfus enden sie. Es soll technische Probleme gegeben haben wegen des Nebels. Hoffen wir, dass er sich lichtet.

Ulrike Kahle

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