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Kultur: Was von der Zeitung übrig bleibt

Der Berliner Künstler Albrecht Schäfer reißt in der Galerie Kamm Wände ein

Wer die neuen Werke von Albrecht Schäfers sehen will, muss die Galerie betreten. Denn der 1967 in Stuttgart geborene Künstler hat die Schaufenster mit blickdichter weißer Farbe zugestrichen. In den kommenden Wochen aber wird die Sicht besser werden. Schäfers Außenanstrich ist nämlich ein schwach gebundenes, pudriges Weiß, in das Passanten nach Herzenslust Namen, Smileys oder Grüße hineinmalen können. Die unterschiedlichen Graffiti löschen sich gegenseitig, bis die freigekritzelten Scheiben den Blick auf den Galerieraum freigeben werden.

Auch im Inneren zeugt ein kleiner chirurgischer Eingriff in die Innenarchitektur von der Hand des Künstlers: Schäfer hat eine Rigips-Verkleidung abgesägt und lässt damit einen Durchgangsbogen zum Vorschein kommen. Vor vier Jahren war der Bogen der Galeristin Joanna Kamm zu kapriziös erschienen, durfte aus Denkmalschutzgründen aber nicht entfernt werden. Mit ausgeprägtem Sinn fürs Formale hat Albrecht Schäfer die nun demontierte Verkleidung kopfüber unter den Bogen gehängt. Negativ- und Positivstück ergänzen sich zu einer länglichen, scheinbar schwebenden Augenform. Zwar ragen Dübel aus der Wand, und es bröckelt der Putz, dennoch wirkt die Arbeit mit dem Titel „Ausschnitt“ weniger brachial als Wolf Vostells Décollagen oder Gordon Matta-Clarks Tranchierarbeiten an Architektur. Auch der gesellschaftskritische Gestus jener Künstlergeneration ist Schäfers Sache nicht. Eher liest sich sein Kunst-Spalt als kontemplatives Guckloch in die Vergangenheit, in die Geschichte von Wand, Raum, Haus und Straße. Klar wird: Dieser White Cube war ein Gründerzeitzimmer.

Das Spiel mit Architekturgeschichte ist typisch für Schäfers Arbeiten. Für den Werkkomplex „Berlin Alexanderplatz“ recherchierte er die Entwicklung des urbanen Knotenpunkts bis zurück zu einem Stadtplanungswettbewerb von 1928 und zeichnete plausible Szenarien, wie der Platz heute aussehen könnte, wären die Würfel anders gefallen. Oder die Installation „Malewitsch Museum Biberach“: Die Stadt, in der Schäfer aufgewachsen ist, hätte 1957 die größte Malewitsch-Sammlung außerhalb Russlands kaufen können. Heute ist diese im Besitz des Stedelijk Museums, aber Schäfer hat den Traum eines Suprematisten-Museums in der schwäbischen Provinz mit Architekturmodellen und Fotomontagen weitergeträumt.

Kasimir Malewitschs rote Rechtecke und schwarze Quadrate trifft man im Büro der Galerie Kamm wieder. Dort hat Albrecht Schäfer seine verkäuflichen Arbeiten „versteckt“. Es sind Décollagen im engeren Wortsinn – nämlich Zeitungsseiten, aus denen Texte und Bilder herausgeschnitten wurden, bis nur noch monochrome Flächen, an unbedruckten Stegen hängend, und vereinzelte Buchstaben übrig blieben. Dass der „Tagesspiegel“ ein gutes Einwickelpapier hergibt, war bekannt. Doch was Schäfer aus den Schlacken von Tagespolitik, Kleinanzeigen und Kinoreklame herbeizaubert, ist von verblüffendem ästhetischen Reiz (je 1200 Euro). Das sieht manchmal aus wie eine Notenschrift, die John Cage erfunden hat. Nicht zuletzt der gute alte Mondrian scheint seine Hände im Spiel zu haben. Der Schein der Tradition im Neuen: In der Kunst von Albrecht Schäfer ist beides gut aufgehoben.

Galerie Kamm, Almstadtstraße 5, bis 6. August; Dienstag bis Sonnabend 11–18 Uhr.

Jens Hinrichsen

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