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Kultur: Waschen, Schneiden, Fönen

Dauerwelle: eine Neuinszenierung von „Hair“ am Berliner Schiller-Theater

Theaterskandale haben eine geringe Halbwertzeit. Was gestern für Empörung sorgte, löst heute nur noch Gähnen aus. Nach der deutschen Erstaufführung des Musicals „Hair“ war 1968 die Münchener Staatsanwaltschaft eingeschritten, weil die Darsteller in einer Szene sekundenkurz nackt zu sehen waren. Inzwischen wird in jedem Fernsehwerbeblock zur besten Sendezeit drastischere Nacktheit geboten. Auch in der Neuinszenierung der Hippie-Revue am Berliner Schiller-Theater, die am Donnerstag ihre nur mäßig bejubelte Premiere feierte, gibt es die berühmte textilfreie Szene. Am Ende des ersten Teils treten alle 22 Sänger und Tänzer in wallenden weißen Gewändern, die an einen Gospelchor erinnern, auf die Bühne. Bevor das Licht erlöscht, lassen sie die Hüllen fallen. Von Erotik ist dabei nichts zu spüren, verklemmt wird eine Provokation aus den Pubertätsjahren der Republik nachgestellt.

Die Inszenierung des Briten David Gilmore, die von Berlin aus durch Europa touren wird, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: museal. Produzent Wolfgang Proksch hatte versprochen „die Zeit ist wieder reif für ,Hair’“, doch die angekündigte Aktualisierung blieb ein leeres Versprechen. Die Hippies von heute sind die Globalisierungsgegner, die Demonstrationszüge bei den Weltwirtschaftsgipfeln sind ihre Hochämter. Im Schiller-Theater tragen die Mitglieder des „Tribe“ genannten Outcast-Haufens immer noch Samtwesten, Indienkleider und Stirnbänder, sie verbrennen ihre Einberufung in den Vietnam-Krieg, und der Joint kreist gegen die Anpassung an eine Spießerwelt, in der Eltern entsetzt aufschreien, wenn die Haare ihrer Kinder über den Kragen hinauswachsen. Einziges Zugeständnis an den Zeitgeist sind die zackigen Choreographien, zu „Aquarius“ und „Let The Sunshine in“ bewegen sich die Tänzer in Synchron-Schritten, die an die Boygroup-Darbietungen bei MTV gemahnen.

Auf einer Leinwand zieht die Zeitgeschichte als Dia-Show vorrüber: Lyndon B. Johnson, Mondlandung, Happenings. Die Musik der 8-köpfigen Mini-Bigband ist druckvoll, die Hauptdarsteller Shannon Stoeke (Claude) und Berger (Tom Plotkin) haben Soul in der Stimme. Aber gegen die Phantasielosigkeit der Produktion kommen die Schauspieler nicht an. Man könnte aus „Hair“ auch eine wunderbare Schlager-Klamotte machen, am besten mit den hübsch blöden deutschen Texten: „Darling, ich liebe sehr sogar mein langes Haar / Es darf nicht nur in den Kragen ragen / Alles schöne Haar war schulterlang und länger / Klar Mann, nicht wahr, denn wie wunderbar ist langes Haar.“ Guildo Horn, übernehmen Sie!

Bis 6. Juli und wieder vom 1. September bis 6. Oktober im Schiller-Theater.

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