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Ewiger Winter. Der Berliner Autor Peter Wawerzinek.

© dpa

Wawerzinek-Roman „Rabenliebe“: Drama einer Kindheit

Der Berliner Autor und Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek erzählt in „Rabenliebe“ von seiner schweren Kindheit. Und zeigt einmal mehr auf, dass gute Romane nie leicht verdaulich sind.

Es gibt Bücher, die nur schwer zu besprechen sind, weil alles, was sich gegen sie vorbringen lässt, zum Vorwurf gegen die Person des Autors zu werden droht. Das ist immer dann der Fall, wenn Erzähler und Autor identisch sind, wenn eine Lebensgeschichte ausgebreitet wird, die weniger literarisch zu bewerten, als unter biografischen Aspekten zur Kenntnis zu nehmen ist. Lebensläufe sind nun mal nichts, was sich benoten ließe.

Ein solches Buch ist „Rabenliebe“ von Peter Wawerzinek, der darin wieder einmal seine eigene Geschichte erzählt. Die Mutter ließ den Zweijährigen in der DDR zurück, als sie 1956 in den Westen ging. Das ist die unüberwindliche Urkatastrophe. Er wuchs in Heimen auf, dann in einer Adoptivfamilie, und obwohl er sich über die Verhältnisse hier wie dort nicht wirklich beklagen kann, lebte er in fortgesetzter emotionaler Obdachlosigkeit, immer getrieben vom Muttermangel, von einer existentiellen Verlassenheit. Und doch dauerte es fünfzig Jahre, bis er es wagte, die Spur der Mutter aufzunehmen und sie zu besuchen. In Ebersbach am Neckar traf eine kleine, böse, gefühllose alte Frau, die ihn begrüßte, als käme er gerade vom Einkaufen. Sie hatten sich nichts zu erzählen und saßen nebeneinander in der kleinen Küche, „wie Leute in einem Wartesaal, die eine Nummer gezogen haben“. Mit dieser Mutterfindung könnte der lebenslange Zwang zur Mutter-Erfindung beendet werden. Das Kind ist endlich erwachsen geworden, indem es die Mutterlosigkeit akzeptiert. Schlimmer als im Heim (das gar nicht so schlimm war) wäre es jedenfalls gewesen, bei dieser Mutter zu sein.

Der Besuch, bei dem auch noch acht Halbgeschwister auftauchen, steht ganz am Ende und braucht einen über 400 Seiten langen Anlauf. Die eingebaute Angstbremse macht den Erinnerungsmarathon zu einer einzigen Mutterverzögerung. Jede Ausflucht nimmt der Erzähler dankbar an, jeder Umweg wird gegangen, jede Erinnerung ausgebreitet, als käme es auf die Masse der Details an, um zu begreifen, was Mutterlosigkeit bedeutet. So nachvollziehbar diese Taktik psychologisch ist, so quälend ist sie als literarische Strategie. Der Stoff gibt die Dehnung nicht her – zumal viele Figuren und Ereignisse schon aus Wawerzineks sehr viel schlankerer Erzählung „Das Kind das ich war“ von 1993 bekannt sind. „Ich möchte mein Thema wie einen Bombengürtel tragen, mich mit ihm in die Luft jagen. Anders gelingt der Roman zur Mutter nicht“, schreibt er nun, und der Verlag macht daraus einen fetten Werbetext. Soll man es bedauern, dass die Bombe nicht zündet?

Wawerzinek erzählt bildhaft, assoziativ und sprunghaft. Er durchsetzt den Text mit Kinderreimen und Volksliedern und romantischen Versen, die ihm, ob passend oder nicht, in den Sinn kommen. Er lässt ihn mit Wortspielereien aufgehen wie einen Hefeteig, montiert Zeitungsausschnitte von verlassenen Kindern und andere Zitate dazwischen, ohne dass klar würde, was damit bewiesen werden soll, und dehnt ihn durch überstrapazierte Metaphern wie den an allen entscheidenden Lebensstationen pünktlich fallenden Schnee noch weiter aus, denn in diesem Leben „ist ewig Winter“, inklusive Nebel und Nebelkrähen. Der „im Kopf fallende Schnee“ wird ausgepresst bis auf den letzten Tropfen und bis auf das schneeweiße, zu beschreibende Papier.

All diese rein rhetorischen Mittel erzeugen eine fortgesetzte Redundanz und führen zu einem Verlust der Konzentration, sodass die Anteilnahme, die die Geschichte erwecken sollte und möchte, sich bedauerlicherweise bald in Überdruss und Langeweile verwandelt. Das ist allein dem Stil geschuldet und nicht dem Gegenstand. Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten sind die Grundprinzipien der Psychoanalyse. Als Grundmuster für einen Roman taugen sie nur bedingt. Das vorangestellte Motto drückt dieses Dilemma aus: „Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten, als mir lieb ist.“ Auch den Erinnerungen ist nicht zu trauen.

Dabei stecken in diesem Buch großartige Szenen und schmerzhaft genaue Sätze. Man muss sie suchen wie Perlmuscheln auf dem Grund des Ozeans. Sätze wie diesen: „Das Schicksal eines Menschen auf dem Weg zu einer großen Sache ist, dass er unterwegs untergeht, auf dem Weg, den er eingeschlagen hat, um seinem Untergang zu entgehen.“ Den Bachmannpreis hat Wawerzinek mit einem Auszug vom Anfang des Romans zu Recht gewonnen. Die Schwächen treten auf längerer Strecke zutage, während kurze Abschnitte ergreifen können. Wawerzinek ist am besten, wenn er sich von seiner eigenen Geschichte löst. Er sei Schriftsteller geworden, um eines Tages über seine Mutter zu schreiben, gesteht der Erzähler. Tatsächlich schreibt er aber nicht über die Mutter, sondern vor allem über sich und seine Mutterillusionen. Auch der äußere, historische Rahmen, die Geschichte von DDR und Ost und West, bleibt seltsam blass, denn neben dieser einen, schreienden Ungerechtigkeit der eigenen Mutterverlassenheit muss alles andere verblassen.

Ein „psychologisch arbeitender Mensch“, der einmal kurz zu Wort kommt, hält so manches, was den Autor charakterisiert, für eine bedenkliche Folge seiner Kinderheimkindheit: seine Redelust, sein Plappern, die Sucht im Mittelpunkt zu stehen, Kontrollverlust, Streitlust, unvernünftige Spendierfreude und Manie zur Verschwendung, Schüchternheit, Oberflächlichkeit und so weiter – von Haarausfall, Entengang und nervtötendem Party-Genöle ganz zu schweigen. Peter Wawerzinek scheint dieser Einschätzung nicht unbedingt widersprechen zu wollen. Es könnte aber sein, dass er sich mit diesem Buch freigeschrieben und das rein Biografische endlich hinter sich gelassen hat. Vielleicht wird er nun anfangen können zu erzählen – jenseits der lastenden Erinnerungen.

Wahrscheinlich liegt es an den Castingshows und nicht nur an der Digitalisierung der Welt, dass der Ruhm immer noch flüchtiger wird in diesen Tagen. Andy Warhol würde seine 15 minutes of fame, die er 1968 jedem Bürger der Zukunft voraussagte, heute wohl in 15 seconds of fame umwidmen. Gibt ja nur noch Shooting Stars, die raketengleich aufsteigen und ebenso schnell wieder verglühen. Gepusht, gehypt und fallen gelassen – husch husch die Waldfee. Die Erde dreht sich mit schwindelerregendem Schwung, das Material, das die Autos von Google Street View zurzeit im Schritttempo sammeln, dürfte schon an der nächsten Straßenecke wieder veraltet sein.

Ein paar Beispiele aus den Agenturen der letzten 15 Sekunden. Die Fußballer gehen immer schneller zu Real Madrid, früher hätte Mesut Özil dafür jahrelang auf Weltniveau spielen müssen und nicht bloß eine WM. Die Schlagersängerin Christina Stürmer kommt 2011 ins neue Wiener Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds – mit 28! Den schönsten Kommentar dazu formuliert Stürmer selbst: „Von allen ausgestellten Musikern aus Österreich bin ich die einzig Lebendige, obwohl sich das jetzt a bissl blöd anhört.“ Die Agenturen verraten außerdem, dass Claudia Schiffer am 25. August 40 Jahre alt wird. Dass „das bestbezahlte Covergirl der Luxusindustrie“ (dpa) in solch biblischem Alter nicht in Rente zu gehen gedenkt, kommt in unseren rasenden Zeiten einem sensationellen Anachronismus gleich.

Man kann das Schnelle und das Langsame auch auf raffinierte Weise miteinander versöhnen. Das geschieht gerade in Amerikas Literaturszene rund um Jonathan Franzens sehnlich erwarteten neuen Roman „Freedom“, der Ende August erscheint. Einerseits hat sich der Schriftsteller nach seinem Epochenroman „Die Korrekturen“ methusalemische neun Jahre lang Zeit gelassen, sein nächstes, ebenfalls rund 500 Seiten starkes Epos zu verfassen. Der 51-jährige Autor hat es, wenn man den amerikanischen Vorabrezensionen Glauben schenken darf, erneut auf das große Gesellschaftsporträt abgesehen, auf ein Sittenbild der amerikanischen Nation. Wieder geht es um eine Familie aus dem Mittleren Westen, diesmal nicht in St. Louis, sondern in St. Paul, die in ihrer selbstrenovierten viktorianischen Villa von den Widrigkeiten der Gegenwart heimgesucht wird: Irakkrieg, Umweltzerstörung, Kapitalismus, sexuelle Libertinage – überhaupt die große allgemeine Verunsicherung seit den Anschlägen von 9/11.

Ein Buch mit langem Atem, mit klassischen, altmodischen Romanfiguren ist annonciert. „Time“ spricht von einem Plot wie bei Dickens, das „New York Magazine“ findet, Franzens Erzählweise stamme aus der Steinzeit – um sie dann in den Himmel zu loben.

Und nun der Hype. Der langsame, gründliche Franzen hat es schon vorab auf das Cover des „Time“-Magazins geschafft, diese Ehre wird Schriftstellern selten zuteil. Die Kritiker überschlagen sich vor Begeisterung, bevor die Leser das Buch überhaupt zu Gesicht bekommen haben. Wer die Sehnsucht kennt: Der Wunsch nach einem neuen, allgemeingültigen, die Leser verbindenden Epochenroman im Zeitalter der fragmentierten Öffentlichkeit von Twitter und iPhone ist einfach zu groß. Das „New York Magazine“ zitiert jedenfalls David Foster Wallace’ Bonmot von der großen Literatur, die dafür sorgt, dass der Leser sich weniger einsam fühlt.

Schon Mitte September erscheint Franzens Roman auch auf Deutsch, „Freiheit“ kommt dann bei Rowohlt heraus. Man kennt das bisher vor allem von den „Harry Potter“-Bänden: Die Ungeduld der Fans ist so groß, dass der Übersetzer nicht am Stück, sondern kapitel- oder sonstwie teilweise überträgt, damit die ausgehungerten Leser nicht länger warten müssen als unbedingt nötig. Keine Atempause, Geschichte wird gebracht.

Verrückte Welt: Wir wollen das zeitlos gültige Meisterwerk, aber subito – und spätestens morgen das nächste. Manche Sätze von Franzen, schreibt Sam Anderson im „New York Magazine“, seien so schön, dass er sie auf kleine Spieße stecken und aufessen möchte. Große Literatur als Fingerfood? Warum nicht lieber altmodisch Bücher verschlingen – und sich verschlingen lassen? Ein guter Roman ist nie leicht verdaulich. Wer war noch schnell Christina Stürmer?

Peter Wawerzinek: Rabenliebe. Roman. Galiani, Berlin 2010, 430 S., 19,95 €

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