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Nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Vereidigung von Rekruten bei der Bundeswehr.

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Wehrpflicht: Was dem Land dient

Nur für Nostalgiker: Die Wehrpflicht hat sich schon seit zwei Jahrzehnten überlebt. Die Krisen von heute erfordern eine andere Armee.

Wenn Institutionen verschwinden, macht sich Wehmut breit – selbst bei denen, die keineswegs zu den Anhängern dieser Institution gehörten, als die noch in Saft und Kraft stand. Mit einem Mal wird alles, was man in der Vergangenheit geschätzt und für politisch bewahrenswert hielt, mit der im Verschwinden begriffenen Institution verbunden.

So ist das jetzt auch mit der Wehrpflicht. Der Staatsbürger in Uniform wird in der Retrospektive mythisiert, das heißt, ihm werden Fähigkeiten und Wirkungen zugeschrieben, die er bei Licht betrachtet nie hatte. So ist davon die Rede, die Wehrpflichtarmee sei die spezifisch demokratische Form der Herstellung von Verteidigungsfähigkeit, so, als ob es sie im Kaiserreich und in der Nazi-Herrschaft nicht gegeben und Großbritannien, der älteste demokratisch regierte Staat im nordatlantischen Raum, nicht die längste Zeit eine Berufsarmee gehabt hätte. Die Mythisierung der Wehrpflicht ist auch die Folge dessen, dass es kaum noch rationale Gründe für die Beibehaltung dieser Institution gibt. Zumal die Franzosen, von denen die Wehrpflicht einst erfunden wurde, sich bereits vor einem Jahrzehnt von ihr verabschiedet haben.

Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn auch in Deutschland dieses Thema früher und energischer auf die politische Agenda gesetzt worden wäre. Aber dazu hatte die mit der deutschen Einigung beschäftigte politische Klasse nicht auch noch die Kraft. Infolge leerer Kassen und fehlender Wehrgerechtigkeit hat sich das Thema nun gleichsam von selbst auf die politische Tagesordnung gesetzt. Für schlampigen Umgang mit zentralen politischen Herausforderungen muss fast immer ein hoher Preis bezahlt werden: Nun verabschieden wir uns von der Wehrpflicht, ohne je eine gründliche Debatte über ihren Nutzen und Nachteil geführt zu haben. Die erwähnte Wehmut ist ein Indikator dafür, wie wichtig diese Debatte für die politische Kultur der Demokratie gewesen wäre.

Auch wenn sich die meisten Stadtrepubliken der Antike und des späten Mittelalters auf eine Milizverfassung gegründet haben, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Wehrpflicht hatte, ist diese im strengen Sinn doch erst ein Produkt der Französischen Revolution. In höchster Bedrängnis durch die Interventionsarmeen der konservativen Mächte Europas rief sie die Bürger zu den Waffen, um die revolutionären Errungenschaften mit Leib und Leben zu verteidigen. Mit gutem Grund misstrauten die Revolutionäre den unzuverlässigen Berufssoldaten des Ancien Régime, die häufig mit den Feinden der neuen Ordnung konspirierten. Was kaum einer für möglich gehalten hätte: Die undisziplinierten, aber hoch motivierten Soldaten der Revolution schlugen die gedrillten Militärmaschinen der Interventionsmächte zurück. Und es dauerte nicht lange, da gingen sie zum Angriff über und eroberten unter ihrem Anführer Napoleon fast ganz Europa.

Von nun an galt: Wer auf dem europäischen Kontinent politisch mitreden wollte, musste über eine Wehrpflichtarmee verfügen, die seinen Worten und Ansprüchen militärische Nachhaltigkeit verlieh. Niemand hatte das besser begriffen als die preußischen Reformer, die einige Errungenschaften der Französischen Revolution per Gesetz und Dekret einführten. So brachten sie das kurz zuvor politisch und militärisch schwer gedemütigte Land wieder auf Augenhöhe mit den europäischen Großmächten. Die Wiedergeburt Preußens ist der Kern des Wehrpflichtmythos in Deutschland. Jedes Mal, wenn es um die Verteidigung oder Wiedereinführung der Wehrpflicht ging, berief man sich deshalb auf die preußischen Reformen. Mitte der 1950er Jahre bemühten sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR bei der Aufstellung von Wehrpflichtarmeen Scharnhorst und Gneisenau, um der im Zweiten Weltkrieg desavouierten Zwangsrekrutierung junger Männer Legitimität und ein wenig Glanz zu verleihen. In der DDR war der Glanz etwas größer, in der Bundesrepublik durch das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Kriegsdienstverweigerung die Legitimität. Im Übrigen ist die in der DDR praktizierte Form der Wehrpflicht ein schlagendes Gegenargument zu der Behauptung, der Bürger in Uniform sei die typische Wehrverfassung der Demokratie.

Mit der Durchsetzung der Wehrpflicht im 19. Jahrhundert in Frankreich und in den deutschen Ländern kam es auch zu einer inneren Militarisierung der Gesellschaft, in deren Verlauf militärischer Geist und militärisches Gehabe immer tiefer in die zivilen Strukturen eindrang. Diese Kolonisierung von innen her ist in historischen Studien eindrucksvoll belegt. Das Militär prägte einen Typ von Männlichkeit, der nicht auf einen Berufsstand beschränkt blieb, sondern sich mittels Wehrpflicht in der gesamten Gesellschaft ausbreitete. Das Geschlechtermodell, an dem sich die Genderstudien in den letzten Jahrzehnten abgearbeitet haben, ist nicht zuletzt das Ergebnis der Wehrpflichtarmeen als Prägeform für den Habitus junger Männer. Dieser Männlichkeit korrespondierte ein Typ von Weiblichkeit, der an heldenhafte Beschützer stabile Erwartungen richtete. So entstand in Europa ein Ensemble heroischer Gesellschaften, die schwerlich friedlich koexistieren konnten. Ihr Zusammenprall erfolgte im Sommer 1914. Es war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.

Heroische Gemeinschaften hat es seit der Ausformung größerer Sozialverbände immer gegeben. Aber diese waren nur ein kleiner Teil der Gesellschaft und klar von ihr getrennt. Das änderte sich mit der Allgemeinen Wehrpflicht. Und wenngleich den Söhnen aus bürgerlichen Familien in Frankreich die Entsendung eines Stellvertreters erlaubt war und Preußens Bürgersöhnen mit dem Institut des Einjährig-Freiwilligen der lange Militärdienst und das Kasernenleben erspart blieb, griff der militärische Geist doch auch auf sie über, zumal Karrieren schon bald dadurch befördert wurden, dass man gedient hatte. Durch die Wehrpflicht wurde das Militär zur „Schule der Nation“, zunächst im Sinne von Sozialdisziplinierung und Mentalitätsprägung, bald aber auch dadurch, dass die Bauernsöhne als Soldaten die große, weite Welt kennenlernten – innerhalb der nationalen Grenzen, in der Ära des Kolonialismus aber auch darüber hinaus. Sie verdankten dem Militär Kenntnisse und Fähigkeiten, die ihnen in begrenztem Maße einen bescheidenen sozialen Aufstieg ermöglichten.

Von all dem kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein. Die Nation bedarf der militärischen Schule nicht mehr, die soziale Mobilisierung erfolgt über andere Kanäle, und auch die äußere Sicherheit ist nicht mehr von Massenheeren abhängig. Die internationale Lage, aber auch die innergesellschaftlichen Verhältnisse haben sich dramatisch verändert. Der Wehrdienst ist für eine Gesellschaft, die aufgrund ihrer demografischen Lage die Menschen länger im Arbeitsleben halten muss, zu einer Last geworden. Wertvolle Ressourcen werden vergeudet, und ein Gewinn an Sicherheit und politischem Prestige ist mit Massenarmeen schon lange nicht mehr zu erzielen.

Im Gegenteil: Zur Bereitstellung von Krisenreaktionskräften trägt der Wehrdienst nichts bei, er bindet Kräfte, die andernfalls sinnvoller eingesetzt werden könnten. Eine Bundeswehr, die zwar eine Viertelmillion Soldaten aufweist, aber beim Auslandseinsatz von 10 000 Mann an ihre Kapazitätsgrenzen gerät, ist unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht überzeugend. Und dass in Anbetracht des wirtschaftlichen und politischen Zusammenwachsens von Europa Hauptverteidigungskräfte in großem Umfang vonnöten seien, kann politisch schon lange nicht mehr vermittelt werden. Seit zwei Jahrzehnten ist die Wehrpflicht in Deutschland eine Institution von Nostalgikern. Irgendwann kommt auch die melancholischste Nostalgie an ihr Ende.

Der Autor lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität. Zuletzt erschien von ihm „Die Deutschen und ihre Mythen“.

Herfried Münkler

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