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Kultur: Wehrt euch, leistet Widerstand

Vor 25 Jahren begann die Schlacht um Wackersdorf. Ein Erweckungserlebnis der Anti-Atom-Bewegung

Karl Jobst ist ein viel beschäftigter Mann. Der Wasserbauer renaturiert Flussufer. Er ist aktiver Kommunalpolitiker und ehrenamtlicher Leiter eines kleinen Heimatmuseums. Und wenn der 60-Jährige mit dem runden Gesicht, der hohen Stirn und der braunen Wolljacke mehr Zeit hätte, dann würde er gerne einmal die 151 Aktenordner auswerten, die seit Jahren völlig unbeachtet im ersten Stock seines Museums in einem grauen Wandschrank lagern. Denn diese Ordner dokumentieren ein Stück deutscher Zeitgeschichte. Es ist das komplette Antragsverfahren für eines der umkämpftesten, teuersten und schließlich gescheiterten Industrieprojekte in der deutschen Geschichte: die atomare Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf.

Alles steht in den Akten, die die Gemeindeverwaltung ins Heimatmuseum ausgelagert hat. Wie heimlich die bayerische Staatsregierung das Projekt in der Oberpfalz vorbereitete, wie trickreich die Deutsche Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) das Projekt vorantrieb, wie gigantisch das Baugelände dimensioniert war, wie die Auseinandersetzung um die WAA eskalierte und wie die Energiewirtschaft das Projekt nach acht Jahren überraschend stoppte. Baupläne gehören dazu, Gutachten, Protokolle und auch jener Antrag, mit dem die Geschichte der WAA Wackersdorf begann. Am 18. Februar 1982 beantragte die DWK beim Regierungspräsidium der Oberpfalz ein Raumordnungsverfahren. Zwar sind am Anfang drei Standorte im Gespräch, aber intern steht fest, dass nur die 3800 Einwohner zählende Gemeinde bei Schwandorf in Frage kommt.

25 Jahre ist das her, und heute erweckt Wackersdorf den Eindruck, als hätten sich jene acht Jahre auf einem anderen Stern ereignet. Als hätte diese kleine Gemeinde mit dem tristen Marktplatz nichts mit jenem Wackersdorf zu tun, das weltweit Schlagzeilen machte. Keine Gedenktafel erinnert an die Schlachten. Die Bürgerinitiative hat sich aufgelöst, die CSU hat die Region wieder fest im Griff. Dabei markierte Wackersdorf eine Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte. Ohne Wackersdorf und dessen Scheitern gäbe es keinen Atomausstieg. Und wenn sich bis heute in Umfragen die Mehrheit der Deutschen gegen die dauerhafte Nutzung der Atomenergie ausspricht, dann wäre dies nicht denkbar ohne den gescheiterten Versuch, in Wackersdorf den Einstieg in die Plutoniumwirtschaft durchzusetzen.

Karl Jobst war von Anfang an gegen die WAA, und wenn der Flussmeister die Frage beantworten soll, woran er sich am eindringlichsten erinnert, dann spricht er über den „Bürgerkrieg“, der sich dort „über Jahre hinweg jedes Wochenende“ abspielte, über bestochene Kommunalpolitiker und über den „tiefen Riss“, der damals durch den Ort ging. Zerrüttete Familien, zerbrochene Freundschaften. Bis heute wirkt dies nach. Der SPD-Ortsverein, dem Jobst vorsteht, spaltete sich, und noch heute diskutieren die Genossen darüber, ob Befürworter von damals wieder in ihre Reihen aufgenommen werden sollen.

Karl Jobst ist einer der wenigen, die sich überhaupt noch darum kümmern, dass in der Gemeinde an die achtziger Jahre erinnert wird. „Nur für meine Generation ist die WAA noch ein Thema“, sagt er, „meine Kinder können sich gar nicht vorstellen, was damals hier los war.“ Es fehlt ja auch das Anschauungsmaterial. Nur in einem kleinen Raum des Museums gibt es ein paar wenige Ausstellungsstücke. Den halben Raum füllt ein Modell der WAA Wackersdorf aus. Der Schaukasten wirkt mit den aufgemalten Straßen und den niedlichen Häuschen ziemlich altbacken. Mit kleinen Knöpfen lassen sich rote Lämpchen zum Leuchten bringen. Sie zeigen, wo das Eingangslager errichtet werden sollte und wo die Brennelementefabrik. 350 Tonnen hoch strahlender Atommüll aus Atomkraftwerken sollten dort zerkleinert, gereinigt und zu neuem Brennmaterial verarbeitet werden.

Atomarer Brennstoffkreislauf und Plutonium, Atomkraft und Atombombe, Becquerel und Halbwertszeit. Die Republik diskutierte seit den siebziger Jahren über die Atomenergie. In Wyhl, in Grohnde, in Brockdorf und in Gorleben demonstrierten hunderttausende AKW-Gegner. Die Auseinandersetzungen werden zum Kristallisationspunkt für die Entstehung der Umweltbewegung. Der Staat reagiert hilflos auf die protestierenden Bürger und rüstet seine Polizei auf. Gleichzeitig gibt es militante Demonstranten, die nicht nur die WAA bekämpfen wollen, sondern die kapitalistische Gesellschaft. Die radikalisierten Kinder der 68er-Bewegung treffen auf konservative Naturschützer. Es sind die Geburtswehen eines neuen gesellschaftlichen Milieus. Doch nirgendwo eskalieren die Auseinandersetzungen so heftig wie in der bayerischen Provinz. „Ich habe alle Schlachten miterlebt“, sagt Gert Wölfel. Der 67-Jährige war Atommanager und wurde 1987 als DWK-Vorstand in die Oberpfalz geschickt. „Ich habe für die WAA gekämpft.“ Er sitzt an einem der idyllischen Braunkohleseen von Wackersdorf, trinkt ein Glas Weißwein und sagt rückblickend, „wir haben viel falsch gemacht. Wir hätten viel mehr mit den Menschen reden müssen“, auch über die Risiken und wie man sie beherrschen könne.

Doch der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß will nicht über die Nebenwirkungen der Atomenergie reden, für den CSU-Politiker ist eine WAA so gefährlich wie eine Fahrradfabrik, und nachdem in Niedersachsen der Bau eines nationalen Entsorgungsparks politisch gescheitert ist, will der Bayer das Gegenteil beweisen. Bürgerbeteiligung ist für die CSU-Regierung ein Fremdwort, Transparenz bei der Planung verpönt, Deeskalation überflüssig. Die Wahl fällt auf Wackersdorf, weil die Region strukturschwach und ihre Bevölkerung anders als in Gorleben „industriegewohnt“ sei.

Welch ein Irrtum. Schritt für Schritt eskaliert die Auseinandersetzung. Schon 1981 gründen sich die ersten Bürgerinitiativen. 1985 besetzen WAA-Gegner das Baugelände im Wald, doch es wird in einem der größten Polizeieinsätze der bundesrepublikanischen Geschichte geräumt. Es folgen Massendemonstrationen und gewalttätige Auseinandersetzungen. Als dann das sowjetische Atomkraftwerk Tschernobyl explodiert, findet Pfingsten 1986 am Bauzaun in Wackersdorf eine Schlacht statt, wie sie das Land noch nicht erlebt hat. Vermummte Demonstranten greifen die Polizei an, sägen Löcher in den als unüberwindlich geltenden Bauzaun. Die Polizei wirft aus Hubschraubern CS-Reizgas ab und treibt Demonstranten mit Schlagstöcken zusammen. Über 400 Personen werden verletzt, ein Polizist stirbt bei einem Unfall, eine Demonstrantin erleidet einen Herzinfarkt. Der Einsatz der Bundeswehr wird erwogen. Aus dem Streit um die Atomenergie und deren Gefahren wird eine Frage des Rechtsstaates und der Demokratie.

Darf eine Landesregierung ein Großprojekt gegen massiven Widerstand durchsetzen, ist dabei jedes polizeiliche Mittel erlaubt, kann sie sich auf demokratische Legitimation aus einer Landtagswahl berufen? Die Stimmung in der Oberpfalz kippt. Pastoren, Polizisten und CSU-Kommunalpolitiker wenden sich ab. Sie distanzieren sich nicht von den „angereisten Chaoten“, sondern von der Staatsmacht.

„Die haben gedacht, mit den Oberpfälzern kann man alles machen“, sagt Dietmar Zierer. Der 60-jährige Rechtsanwalt war 1982 stellvertretender Landrat. Aber als Atomkraftgegner zählte er damals zu einer Minderheit in der SPD. Er kämpft an zwei Fronten und gewinnt. Er holt als Roter in der schwarzen Oberpfalz ein Direktmandat, und auch die SPD schwenkt auf Ausstiegskurs um.

Doch so sehr die Landesregierung die Gefahr kleinredet, so sehr wird sie von den WAA-Gegnern übertrieben. An jeder Ecke lauern der Atomtod, verstrahlte Lebensmittel und Blutkrebs. „Wir haben mit Angst gearbeitet, wir haben die Gefahren natürlich auch übertrieben, wir haben die Leute aufgehetzt“, bekennt Dietmar Zierer heute, „aber wir wussten, dass wir im Recht waren.“ Aus dem engagierten Jungpolitiker ist ein desillusionierter Zyniker mit Bauch und Doppelkinn geworden. In seiner Kanzlei stapeln sich Bücher und Akten. Zierer ist im Streit aus der SPD ausgetreten und sitzt mittlerweile für die Grünen im Kreistag von Schwandorf, aber auch die Öko-Partei hat seine Ideale verraten. Zur Zeit schreibt er an einem Buch über die „Funktionärsoligarchien“ von SPD und Grünen.

Dietmar Zierer hat sie alle getroffen, die Machtpolitiker der rot-grünen Generation. Mit Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine war er per Du, mit Joschka Fischer, Claudia Roth und Otto Schily rüttelte er am Bauzaun. Sie alle waren beeindruckt von der Mobilisierungsfähigkeit und der kulturellen Hegemonie der WAA-Gegner. Für eine ganze Generation galt es als hip, gegen Atomkraft zu sein, und im Juli 1986 kommt es in der Oberpfalz zu einem gigantischen Rockfestival, kein Star des Gewerbes fehlt. Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer und BAP spielen um die Wette gegen die Atommafia. Als am späten Abend des zweiten Tages etwa 100 000 Menschen zusammen mit Rio Reiser im Schein von Feuerzeugen „Somewhere over the Rainbow“ singen, da hat die Bewegung ihr Erweckungserlebnis, ihr Woodstock.

Das Aus für die WAA kommt im April 1989 völlig überraschend. „Es waren ausschließlich ökonomische Gründe“, versichert Gert Wölfel. Der ehemalige Atommanager ist noch immer davon überzeugt, dass die WAA politisch und juristisch durchzusetzen gewesen wäre. Die Proteste hätten ihren Zenit bereits überschritten gehabt, die Landesregierung hätte dem Recht Geltung verschafft. Doch die Kosten waren nicht mehr kalkulierbar, einige technische Probleme des schlecht gewählten Standortes ungelöst, und auch die Dauer von Genehmigungs- und Gerichtsverfahren zog sich immer mehr in die Länge. Trotzdem ist das nur die halbe Wahrheit. Längst stellten sich die Atommanager Ende der achtziger Jahre darauf ein, dass schon bald die SPD und damit Kritiker der Wiederaufarbeitung in Bonn regieren würden. Franz Josef Strauß ist im Jahr zuvor gestorben, und Bundeskanzler Helmut Kohl steht vor dem Sturz. Dass es wegen der Wiedervereinigung noch acht Jahre länger dauert, bis die CDU abgewählt wird, damit rechnet Anfang 1989 niemand. Die Energiewirtschaft zieht die Notbremse. Mit einem Jahrzehnt Verspätung kommt der Atomausstieg. In der rot-grünen Bundesregierung haben Anti-WAA-Demonstranten der achtziger Jahre das Sagen, auch wenn sich nicht mehr alle daran erinnern wollen.

Was ab 1989 auf dem Baugelände passiert, nennen die Oberpfälzer das „Wunder von Wackersdorf“. Der Atommanager Wölfel erhält den Auftrag, für Ersatzarbeitsplätze zu sorgen. Das Land Bayern zahlt 1,5 Milliarden DM und zwingt die DWK, 500 Millionen DM zu geben. In das bereits fertige Brennelemente-Eingangslager zieht BMW ein, es nutzt den mächtigen fensterlosen Betonbau als Lager. Autozulieferer, Kunststoffverarbeiter und ein Baggerhersteller werden mit üppigen Subventionen gelockt. Aus der Krisen- ist eine Boomregion geworden. Dank sprudelnder Gewerbesteuern hat die Gemeinde im vergangenen Jahr ihre letzten Schulden zurückgezahlt. Für das Wunder haben die Gemeindeväter Gert Wölfel zum Ehrenbürger ernannt.

„Die Menschen hier sind glücklich ohne die WAA“, sagt Irene Maria Sturm, aber trotzdem macht sie einen verbitterten Eindruck. Fünfzehn Jahre hat die Schwandorferin „für die Bewegung gearbeitet“, und sie saß vier Jahre für die Grünen im Landtag. Inzwischen arbeitet Irene Maria Sturm als Kellnerin. Und nun sitzt die 54-Jährige mit dem langen braunen Haar in ihrem Biedermeierwohnzimmer und schimpft. Über die Oberpfälzer, die nicht mehr gegen die Atomkraft kämpfen, über die Grünen, die „die Bewegung verraten“ haben, und über den Atomausstieg, der keiner ist. „Ich könnte heulen“, sagt sie, „mein Herz hängt an dieser Bewegung.“

Den letzten Satz würden Gisela Wendling-Lenz und Ulrich Lenz vermutlich ähnlich formulieren, doch statt zu heulen, sagt Ulrich Lenz: „Wir haben viel erreicht.“ Auch das Ehepaar Lenz hat von Beginn an gegen die WAA gekämpft und sich bei den Grünen engagiert. Inzwischen hängen Windkarten in ihrem Büro in der Regensburger Altstadt. Statt mit Brennstäben beschäftigen sie sich mit Rotorblättern. Mit ihrer Firma Ostwind projektieren und bauen sie Windräder. „Wir wurden auf Veranstaltungen immer gefragt: Wie wollt ihr stattdessen Strom produzieren“, erzählt der 58-jährige frühere Handelsvertreter, „aber wir hatten keine rechte Antwort.“ Inzwischen haben sie diese. 1989 stellten sie im Bayerischen Wald das erste Windrad auf. Es ist zunächst nicht mehr als ein Symbol, ein Hobby, bei Freunden sammeln sie Geld, so recht will das erste Windrad nicht laufen. Inzwischen beschäftigen die beiden 40 Mitarbeiter und projektieren im In- und Ausland Windparks. „Wir sind Überzeugungstäter“, sagt Gisela Wendling-Lenz. Das Geschäft floriert, fast 300 Anlagen haben sie bislang aufgestellt, 150 000 000 Kilowattstunden Storm haben diese Windräder im Januar dieses Jahres produziert, weil der Wind optimal blies. „Das ist die Leistung von einem Viertel-Atomkraftwerk“, sagt Ulrich Lenz stolz, „ohne jede Emission“, und er ist fest davon überzeugt, „der Atomausstieg ist möglich.“

Da widerspricht Gert Wölfel. Ohne Atomenergie gehe es nicht, sagt der Ex-DWK-Chef, aber er fügt hinzu: „Ich bin kein Atomfetischist.“ Die Chancen der regenerativen Energie sieht auch er. Wölfel ist mittlerweile Vorsitzender einer Stiftung, die in der Oberpfalz eine Tiefbohrung finanziert, aus der Erdwärme gewonnen werden soll. Auf dem Dach einer Halle hat die Stiftung Solaranlagen installiert. Der alte WAA-Gegner Karl Jobst traut Wölfel jedoch noch immer nicht. „Die WAA ist nicht vergessen“, sagt der Leiter des Heimatmuseums. Wenigstens gibt es einen Ort, der an den Widerstand erinnert. Mitten im Wald steht das Kreuz mit dem geschnitzten Christuskörper, das einst die Amtskirche provozierte. Gelegentlich finden dort Andachten statt. Mehr als ein paar Dutzend alte Anti-WAA-Kämpfer kommen nicht zusammen. Widerstands-Nostalgie.

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