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Weihnachtszeit ist Reisezeit: Berlin, ich bleibe bei Dir!

Alle wollen unbedingt in der Hauptstadt wohnen. Aber wenn Weihnachten naht, stehlen sie sich in die alte Heimat davon. Schluss damit, meint unsere Autorin.

Dieses Jahr ist mein Abschiedsjahr. Ich verabschiede mich davon, mich an Weihnachten aus Berlin davonzustehlen. Ich verabschiede mich davon, wie ein Teenager zu Mama und Papa in meine alte Heimatstadt zu fahren, die ich schon vor fast 20 Jahren verlassen habe. Ich verabschiede mich davon, Berlin an Weihnachten nicht als Heimat anzuerkennen.

Ich werde nie wieder seine popeligen Lichterketten in den Einkaufskiezen, seine Matsch-Rollsplit-Hundescheiße-Wege, seine Obdachlosen in Bahnhöfen und Sparkassen-Vorräumen, seine Weihnachtstouristen mit viel zu dicken Jacken und Mützen und Stiefeln hinter mir lassen, all diese unfeierliche Stimmung der großen Stadt, dieses Angerempeltwerden, diese Schlangen in Einkaufszentren, diese in Dunkelheit und Kälte viel zu langen Wege. Ich werde nie wieder irgendwelche „Beste Bücher 2012“-Listen aus Tageszeitungen sammeln und einen Tag vor meiner Abfahrt bei Amazon eingeben und an meine Heimatadresse schicken lassen – um einige von ihnen dann nach Berlin zurückzuschicken.

Ich werde Gutscheine basteln, die alle direkt bei mir in Berlin einlösen können: für Babysitten, Malerarbeiten, Massage, Tanzbegleitung, was du willst. Denn ich bleibe jetzt hier. Oder nee, ich werde einfach sagen: Schenkt mir nichts, sondern spendet dem Berliner Kältebus. Zum Beispiel. Jedes Jahr könnte ich ein neues Berliner Projekt wählen, dem die Geschenke gestiftet werden. Und so hätte mein Weihnachten immer auch für meine nichtberliner Freunde mit Berlin zu tun.

Ich werde dann nie wieder die Weihnachtsoratorien verpassen, die in den Kirchen der Stadt von begeisterten Bürgerchören und -orchestern aufgeführt werden, nein, ich würde mir schon im November meine Karte dafür kaufen, damit ich in der ersten Reihe sitzen kann, sie in der Küche an die Pinnwand hängen und mich wochenlang darauf freuen, auch Bekannte einladen, vielleicht, ja, sehr wahrscheinlich sogar, werde ich mich nicht nur darauf freuen, ich werde sogar in einen Chor eintreten und Flyer austeilen und mitsingen. Als ob ich nie etwas anderes getan hätte.

Ich werde einen Tannenbaum beim Christbaum Discount (14,99 für 1–1,30 Meter) in Pankow kaufen, den ich dann mit den Öffentlichen in die Wohnung transportiere und Anfang Januar vor meine Haustür stelle. Und im Vietnam Centre in Lichtenberg kaufe ich mir eine möglichst bunt und vielrhytmisch blinkende Balkonfigur.

Neue Traditionen müssen her.

Ich werde nie wieder Mitte Dezember meine Eltern anrufen und besprechen, wann ich denn am besten ankomme, was wir kochen werden, wie lange ich bleibe. Ich werde mit dieser Tradition brechen, denn es ist doch klar: neue Traditionen müssen her. Ich werde Berliner Sauerbraten im Römertopf kochen. Ich werde nicht mehr meinen Koffer in meinem alten Kinderzimmer abstellen, meine alten Poster anschauen, in Schubladen mit alten Fotos und Briefen wühlen, mit meinen Eltern nach meiner Ankunft Abendbrot essen und dann alte Freunde in einer Disko treffen, die „Lila Eule“ heißt.

Sie heißt wirklich so und ich werde sie vermissen. Ich werde auch den Sauren vermissen, den wir da trinken, das ist saurer Apfelkorn, der dort superbillig ist, ein Euro pro Schnapsglas, zum Kippen auf der Tanzfläche. Ich werde nie wieder mit dem überfüllten ICE nach Hannover oder Hamburg fahren und dort den Anschluss verpassen, auf dem Bahnsteig frieren oder, weil mir langweilig ist, eine Brezel oder eine Modezeitschrift kaufen. Ich werde auch nicht zum ZOB fahren, dort in einen Überlandbus steigen. Mir wird nie wieder vom Schaukeln des Busses und dem Mandarinenschalenaroma aus der Abfalltüte schlecht werden, während der Busfahrer ein Kaff nach dem anderen anfährt, um dörfliche Weihnachtspilger herauszulassen.

Und ich werde auch nie wieder mit dem Auto zu spät loskommen, weil man sich ja nicht immer stressen lassen will vor Feiertagen, dann gleich auf dem Ring im Stau stehen, in Streit geraten über die Lautstärke der Musik, genervt sein, keinen Unfall haben, aber Unfälle sehen – die dann noch mehr Rückstau verursachen.

Ich werde einfach in Berlin bleiben. Und das sollten alle anderen auch tun, vor allem wegen der Staus und der überfüllten Züge. Es lohnt sich nicht. Und damit nicht genug. Ich werde mir auch nie wieder den Rücken kaputt machen, weil ich Koffer voller Geschenke schleppe, sowohl hin als auch zurück. Denn es wird kein Hin oder Zurück mehr geben.

Ich werde nie wieder Glühwein auf dem Marktplatz meiner Heimatstadt trinken, ich werde kein Cachou kaufen, Kräuterbonbons mit silbernen Lakritzstreuseln, keine Handschuhe vom Weihnachtsmarktstand meines Vertrauens und keine Nüsse vom holländischen Stand. Ich werde nie wieder überlegen, wem ich noch Bescheid sagen soll, dass ich zu Hause bin. Denn ich werde woanders zu Hause sein. Stattdessen werde ich die besten Weihnachtsmärkte von Berlin kennen, die abgelegensten, stadtrandigsten, aber auch die romantischsten.

Noch ein Grund, in Berlin zu bleiben: Es gibt überall W-Lan.

Aber ich werde nie wieder mit meinem Vater am 24. eine der letzten übrig gebliebenen Fichten erstehen, auf dem Kombi festbinden und ihn mit in Kindergartentagen gebastelten, von rotem Kerzenwachs besprenkelten Girlanden, Strohsternen und Kienäppelwichteln schmücken. Ich werde nie wieder die Krippe, deren Dach immer abfällt, unter dem Baum aufbauen, ich werde nie wieder durch das Fenster in die erleuchteten Nachbarreihenhäuser reinschauen können, in denen ebenfalls, wie abgesprochen, Weihnachtsbäume mit echten Kerzen im Fenster stehen, kein Elektro-Klimbim. Den hab’ ich dann aber in Berlin, ich probiere es dann endlich mal aus mit Sachen wie der X-Mas-Gala „Dicke Eier Weihnachtsfeier mit Die toten Crackhuren im Kofferraum“, dieses Jahr im Bi Nuu. Ich mache es wie meine internationale Familie in Kreuzberg und Neukölln, die nicht nach Hause fahren kann, weil das Zuhause tausende Kilometer weit entfernt ist: Berlin, ich bleibe bei dir.

Ich werde nie wieder auf das Ehemaligentreffen meiner Schule gehen, denn da gehen ja sowieso nur noch die Jüngeren hin. Oder selbst die schon nicht mehr. Die haben ihre eigenen Stammtischrunden. Ich werde nie wieder ein paar Jungs, ja, so sagt man bei uns, aus dem Jahrgang über mir kennenlernen, mit ihnen dann in das leere Haus der Eltern gehen, weil die Eltern über Weihnachten weggefahren sind, wahrscheinlich in ihr altes Zuhause, ich werde nie wieder darauf warten, dass einer eine Flasche Champagner köpft, die dann einen Kork hat, aber das ist uns egal, wir sind ja zu Hause. Ich werde auch nie wieder versuchen, mit einem Internetstick an meinem Kinderschreibtisch Empfang zu bekommen und E-Mails zu schreiben. Ich werde nie wieder Weihnachten an einem Ort sein, wo es kein W-Lan gibt. Denn in Berlin haben alle W-Lan. So werde ich nie wieder ein internetfreies Weihnachten verbringen, ich werde über das Internet mit allen Weihnachtsfesten der Welt verbunden sein. Das ist toll.

Und ich werde in die Nachbarfenster gegenüber schauen. Ich werde sehen, ob der Mann, der jeden Abend über einen Tisch gebeugt Kleinstreparaturen vornimmt, ich vermute an Uhren, ob dieser Mann überhaupt Weihnachten hier ist. Ebenso das ältere Pärchen eins drüber, die sich einen Fensterbrettkühlschrank aus einer Plastiktüte gebaut haben. Ob sie einen Baum aufstellen. Oder ob die Studentin, die abends unter der weißen Bogenlampe liest, ob sie vielleicht auch ins Weihnachtsoratorium geht.

Nächstes Jahr, das verspreche ich, bleibe ich hier.

Nikola Richter lebt als Schriftstellerin und Bloggerin in Berlin. Demnächst erscheint von ihr „poesia del parque. poemas en español falso“ (Milena Berlin).

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