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Kultur: Weimarer Verhältnisse

Die Klassik-Stiftung steht vor dem Umbruch. Ein Gutachten sorgt für Aufregung. Nur der Präsident bleibt gelassen

Weimar empfängt den Besucher vorstädtisch. Den Weg vom Hauptbahnhof zum Neuen Museum säumen Villen des 19. Jahrhunderts. Im Neuen Museum, 1865 errichtet, wird seit 1999 die zeitgenössische Sammlung Paul Maenz ausgestellt – noch, denn der Sammler hat seinen Leihvertrag zum 31. Oktober gekündigt, weil er seine Schätze nicht genügend gewürdigt sieht. Das Neue Museum verzeichnete zuletzt 4800 Besucher im Jahr – wahrlich ein Armutszeugnis.

Doch für wen? Dies herauszufinden, war noch die geringste der Aufgaben der „Strukturkommission Zukunft Weimarer Klassik und Kunstsammlungen“. Sie wurde im vergangenen Jahr vom Wissenschaftsrat eingesetzt, nachdem dieser die Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen (SWKK) gewogen – und zu leicht befunden hatte. Vor einer Woche legte die Strukturkommission ihr 93-seitiges Gutachten vor, das für erheblichen Wirbel in Weimar sorgte. Medienberichten zufolge muss die Stimmung in der Stiftung in den Tiefkeller gerutscht sein.

Hatte nicht der Vorsitzende der siebenköpfigen Strukturkommission, Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, bereits vorab gedroht, es gebe „keine zweite Chance für Weimar“? Flugs wurde in den Medien der Stab über die offenbar völlig verrottete SWKK gebrochen und über Weimar gleich mit.

Da scheint nun doch einiges durcheinander geraten zu sein. Gewiss sollte man sich nie vom äußeren Eindruck täuschen lassen – mag der auch in Weimar bekanntlich besser sein als in nahezu jeder anderen ostdeutschen Stadt . Sieht man vom Trauerspiel des – allerdings eher peripher gelegenen – Neuen Museums ab, machen die Einrichtungen der Weimarer Großstiftung – die neben vergleichbaren Verbünden in Berlin oder Dresden zu den fünf größten deutschen Kultureinrichtungen zählt – einen ansehnlichen, wenn auch im Einzelfall verbesserungswürdigen Eindruck. Nicht nur Goethehaus und Schiller-Museum, auch das Schloss- sowie das Bauhaus-Museum erfreuen sich regen Zuspruchs. Und für Forscher und Fachleute gibt es die unermesslichen Bestände der deutschen literarischen Klassik und der drumherum gewachsenen Bibliotheken.

Und dann – dann kam die Katastrophe. Am 3. September vergangenen Jahres gingen der Dachstuhl und große Teile des zauberhaften Ovals im Inneren der Anna-Amalia-Bibliothek, dieser Herzkammer des Weimarer Bildungsstrebens, in Flammen auf. 50000 unersetzliche Bücher wurden vernichtet, 62000 weitere aufs Schwerste beschädigt.

Es fällt nicht schwer, in der Brandkatastrophe – noch dazu wenige Wochen vor Eröffnung des herrlichen, großzügigen Studienbibliotheks-Neubaus mit unterirdischen Depots für eine Million Bücher – das Menetekel der Klassik-Stiftung überhaupt zu erblicken. Dass sich die durch jahrzehntelange Vernachlässigung der Infrastruktur überhaupt erst ermöglichte Katastrophe jederzeit wiederholen konnte, machte die Strukturkommission denn auch dramatisch deutlich: Die Graphische Sammlung mit 150000 Blatt und allen Goethe-Zeichnungen wird in einem 90-Quadratmeter-Depot verwahrt, bar jeden angemessenen Schutzes in offenen Regalen und dem allmählichen Verfall preisgegeben. Dieser skandalöse Zustand, den das Gutachten zu Recht anprangert, erscheint wie ein Sinnbild der Gleichgültigkeit der Stiftungs-Oberen.

Einen gleichgültigen Eindruck freilich macht Hellmut Seemann durchaus nicht. Der 52-jährige Präsident der SWKK, seit knapp vier Jahren im Amt und damit auch Steuermann der 2003 vollzogenen, alles andere als reibungsfreien Fusion der „alten“ Klassikstiftung mit den Weimarer Kunstsammlungen, residiert in einem herrlichen Eckzimmer des Schlosses. Der frühere Geschäftsführer der Kulturgesellschaft Frankfurt mbH entwaffnet jeden Ansatz bohrender Kritik, macht er sich doch die Kernforderungen des vermeintlich auch ihn so vernichtenden Gutachtens vollständig zu eigen. Und das nicht aus taktischer Schläue, sondern aus überzeugender Logik: Indem die Strukturkommission den verheerenden Zustand der Graphischen Sammlung vor Augen stelle und zugleich – und zwar in steter Wiederholung – die Forderung erhebe, das bislang der thüringischen Schlösserstiftung unterstehende Residenzschloss sofortissime der SWKK zu übertragen, weise sie den Weg zur Lösung der miteinander verknäuelten Weimarer Probleme. Im Schloss lagern derzeit nicht weniger als 19 verschiedene Teilsammlungen; Seemann hat nun von seinem Stiftungsrat den Auftrag, bis Ende Oktober zu klären, wo und wie die SWKK ein Zentraldepot erhalten könne.

So hat es der Stiftungsrat entschieden, der das Gutachten vergangene Woche zur Gänze abgesegnet hat. Endlich, so Seemann, habe er die Rückendeckung, die ihm in den zurückliegenden vier Jahren gegenüber den Geldgebern Bund, Land und Stadt gefehlt habe. Dabei kommt dem Bund die Motorfunktion zu, das Land ist pleite und die Stadt ohnehin nur peripher an der Finanzierung der SWKK beteiligt. Auch dank Bundes-Sondermitteln gebietet die Stiftung in diesem Jahr über einen Etat von 25 Millionen Euro.

Dennoch wollte sich der Bund gegen die Schloss-Übertragung an die SWKK sträuben. Das fegte deren Stiftungsrat nun mit der Autorität des präzise argumentierenden Gutachtens hinweg. Überhaupt wurden die Einwände ministerialer Bedenkenträger zum Verstummen gebracht. Immerhin schwebt der Strukturkommission vor, das Schloss zum Zentralbau der Stiftung zu machen, den Besucher hier zu empfangen und ihn auf einem Rundgang im ersten Obergeschoss des Bauwerks mit den Schätzen der Sammlungen vertraut zu machen.

Denn das, so hämmert es das Gutachten seinen Auftraggebern ein, ist die Kernaufgabe der Klassik-Stiftung: die Bewahrung der Bestände. Und weil Bewahrung als bloße Archivierung tatsächlich zu jenem „Mehltau“ führt, den Kritiker der Weimarer Zustände längst über Stadt und Stiftung liegen sehen, fordert das Gutachten die enge Verzahnung mit der Forschung. Dabei versagt es sich jede vollmundige Prosa über die überwölbende Idee von Bildung, die allein die enormen Anstrengungen für den Weimarer Kosmos zu legitimieren vermöchte. Doch nur in einem solchen Bildungsbegriff, der von Herder, Goethe, Wieland, Schiller, vom Goldenen Zeitalter Weimars herkommen, doch auch das nachfolgende „silberne“ bis hin zu Nietzsche, Harry Graf Kessler und dem frühen Bauhaus einbegreifen und schließlich in der Gegenwart ankommen muss, gewinnen die Weimarer Stiftung und eben auch die herkulische Aufgabe ihrer Reorganisation den unzweifelhaft nationalen Rang.

Ja, die Moderne. Ihr räumt das Gutachten breiten Raum ein, beschwört geradezu die Bedeutung, die dem Bauhaus-Museum in diesem Kontext zukommt. Freilich fällt das Urteil über dessen gegenwärtiges Erscheinungsbild vernichtend aus; und dem Besucher bietet sich in der Tat das deprimierende Bild eines Gemischtwarenladens dar.

Nun gut, das lässt sich ändern und wird, so Seemann, auch in Angriff genommen – im Vorgriff auf die im Gutachten angestellten Überlegungen eines neuen Bauhaus-Museums in Bezug zu dessen ursprünglicher, heute von der Universität genutzter Wirkungsstätte, dem herrlichen Jugendstil-Bau van de Veldes. Dass damit die Aufgabe des für den Besucherzuspruch idealen, wenn auch baulich zu beengten Standortes am belebten Theaterplatz einherginge, dürfte noch Kopfzerbrechen bereiten.

Problematischer ist es um die Gegenwart bestellt, die es – paradox gesagt – spätestens seit Goethes Ableben in Weimar immer schwer hatte. Darum wohl auch die Emphase, mit der das Gutachten die Sammlung Maenz betrachtet. Allerdings schiene es sinnvoller, den Gedanken Seemanns zu verfolgen, die Gegenwartskunst als Störfaktor in die klassischen Sammlungen einzuschmuggeln.

Wie sehr man sich mit der Überbetonung von Gegenwart gerade in Weimar auch verrennen kann, hat das Spektakel des Kulturhauptstadtjahres von 1999 gezeigt, das Seemanns Vorgänger Bernd Kauffmann zu verantworten hatte: ein Blendwerk ohne bleibende Verbesserungen. Wie auch immer, es verirrt sich, wer die Verantwortung für die Stiftungs-Malaisen ergründen will, im Gestrüpp wechselnder Schuldzuweisungen. Unumstößlich bleibt nur die Tatsache, dass in den fast fünfzehn Jahren seit der Wiedervereinigung herzlich viel versäumt worden ist, und nicht nur bei Anna Amalia.

Jetzt also der Blick voraus. Dem Präsidenten ist aufgetragen, eine völlig neue, von der Strukturkommission und dem in diesen Dingen nun wirklich unschlagbar erfahrenen Vorsitzenden Lehmann entworfene, erheblich gestraffte Organisationsstruktur zu etablieren – und zwar zum 1. Januar kommenden Jahres. Dies vor Augen, sitzt der Präsident bewundernswert gelassen an seinem Konferenztisch. Er hat noch vier weitere Jahre (Vertrags-)Zeit: Danach wird evaluiert, „dann muss sich der Präsident verantworten“, spricht er von sich in der dritten Person.

Die Reform ist nicht Weimars letzte Chance, sie ist, so Seemann, „die erste“. Was er verschweigt, ist, dass die erste sehr schnell die letzte gewesen sein kann, wenn ihre Umsetzung misslingt. Darüber mit Argusaugen zu wachen, ist Aufgabe der ganzen, in Weimar so gern und oft leichthin beschworenen Kulturnation.

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