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Kultur: Weine so laut du kannst

Performance, Film und Rock’n’Roll: Ein Kambodscha-Festival im Hebbel am Ufer.

Es war der Tag der Tränen. Die erste Frau betrat das Studio und begann weinend, ihre Geschichte zu erzählen. „Herzzerreißend“, sagt Michael Laub. Eine Stunde später kam die zweite, ebenfalls vom Schluchzen geschüttelt. Dann die dritte. „Es gab nur geringe Unterschiede in ihren Erzählungen“, berichtet der Künstler. Ob die prügelnden Ehemänner zusätzlich auch Alkoholiker waren, beispielsweise.

Nun überrascht es nicht, dass man in einem bettelarmen Land wie Kambodscha auf bittere Schicksale stößt. Verblüffend aber ist die Szene im Film „Portrait Series Battambang“, in der Laub fünf Protagonistinnen gleichzeitig heulen lässt. Eine orchestrierte Kakophonie des Klagens, eigentümlich komisch und befremdend. „Die Frauen haben selbst mit der Situation zu spielen begonnen“, versichert der Theatermacher beim Gespräch in Berlin. Sie hätten Wiederholungen verlangt, sich gegenseitig inszeniert: Hey, du hast schon besser geweint.

Laub hat den Satz mittlerweile oft gesagt, aber vor diesem Hintergrund gewinnt er eine Dimension: „Ich habe das Trauma nicht gesucht, es hat mich gefunden“. Der aus Belgien stammende Künstler-Choreograf ist zusammen mit HAU-Chefin Annemie Vanackere für das Projekt „Staging Cambodia“ verantwortlich. Im Untertitel: „Video, Memory & Rock’n’Roll“. Ein verlängertes Wochenende aus Performance, Film, Diskussion und Musik, das neue Blicke auf ein Land erlaubt, dessen Horror-Vergangenheit der Westen unter anderem in Roland Joffés Filmdrama „The Killing Fields“ vorgeführt bekam. Das im Punk-Song „Holiday in Cambodia“ der Dead Kennedys besungen wurde.

„Meine Faszination für Kambodscha rührt, wie fast alles in meinem Leben, aus der Fiktion“, sagt auch Laub. In jungen Jahren verpasste er sich eine Überdosis „Apocalypse Now“, Ende der Neunziger reiste er nach Phnom Penh, im Gepäck einen Reiseführer, der das „kranke Nachtleben“ jener Zeit auf eine griffige Formel brachte: „Into the Dark Heart of Girls, Guns and Ganja“. Ein Projekt hat er damals nicht realisiert. Er hatte ursprünglich auch keines im Sinn, als er nach Battambang fuhr.

Über Umwege war Laub in Kontakt mit der „Phare Ponleu Selpak Association“ gekommen. Eine NGO, die in Kambodscha die Wiederbelebung jenes kulturellen Lebens betreibt, das in den Siebzigern von den Roten Khmer unter Pol Pot ausgelöscht werden sollte. Die Organisation bietet eine Zirkusschule, unterrichtet in Bildender Kunst, Fotografie, Musik. Laub dachte, er könne vielleicht einen Workshop dort geben, „für all diese jungen Menschen mit den blond gebleichten Haaren“. Stattdessen holten sie ihm die Traumatisierten aus der Nachbarschaft vor die Kamera. „Ich bin kein Sozialarbeiter“, betont Laub. Aber eben: auch kein Elendsvampir. Sondern ein großartiger Menschenbeobachter.

Seit über zehn Jahren entwickelt der Künstler seine „Portrait Series“. Das Prinzip klingt simpel. Auf der Bühne wird eine papierene Leinwand wie im Fotostudio ausgerollt, wechselnde Protagonisten stellen sich in diesen Fokus, performen oder erzählen. Und werden ohne Kunstanstrengung in ihrer Außergewöhnlichkeit sichtbar. Bühnenarbeiter, Tänzer, Allerweltsgesichter. In Hamburg, Berlin, Rotterdam, Istanbul und Wien hat Laub das Konzept schon erprobt. In Battambang wurde ihm vor allem eins schnell klar: „Ich kann diese Leute nicht auf Tournee durch Europa schicken. Schon die Reise nach Phnom Penh wäre für die meisten zu viel“. Deswegen existiert die „Portrait Series Battambang“ nur als Video.

Es treten unter anderem auf: ein Nachtwächter, der unter Pol Pot gelitten hat. Eine Sexarbeiterin, die nervös kichert. Eine Müllsammlerin, die von einer Modelkarriere träumt. Viele junge Kambodschaner verfolgten solche Ziele, erzählt Laub. Allerdings nicht des Ruhmes wegen. Sondern um ihre armen Familien unterstützen zu können.

Auch Srey Channthy kennt Entbehrungen zur Genüge. Sie stammt aus einem Dorf ohne fließend Wasser und Elektrizität, zwei ihrer Geschwister sind verhungert, Srey durfte nur drei Jahre lang die Schule besuchen, bis heute schreibt sie in einer Schrift, die nur sie selbst lesen kann. Es muss ein großer Moment gewesen sein, als sie mit ihrer Band The Cambodian Space Project an den Geburtsort zurückkehrte, um ein Konzert zu geben. Ihre Mutter hätte sich gewünscht, sie eines Tages im Fernsehen zu sehen, sagt Channthy lächelnd. Sie spricht fast nur Khmer, ein Dolmetscher sitzt ihr zur Seite. Man könnte ihren Lebensweg mühelos als kitschige bis schräge Erfolgsgeschichte erzählen. Das ProvinzMädchen, das es nach oben schafft. Das unterwegs einen Wahrsager konsultiert, der aus der israelischen Armee desertiert ist. Das in einer Karaoke-Bar vom australischen Gitarristen und Keyboarder Julien Poulson entdeckt wird und mit der 2009 formierten Band The Cambodian Space Project international zu touren beginnt. Das nach einem Konzert Nick Cave vorgestellt wird und nicht mal weiß, wer der komische Kerl ist.

The Cambodian Space Project orientieren sich am kambodschanischen Rock der sechziger Jahre, einem wilden Stilmix, der vor allem psychedelisch ist und seit einigen Jahren eine Renaissance erfährt. Das Berliner Konzert der Band wird Michael Laub als galaktische Show inszenieren, mit zusätzlichen Musikern und Tänzern aus Battambang und Phnom Penh, optisch befeuert von den Visuals des Künstlers Marc Eberle. Es verspricht, ein überschießender Zirkus zu werden. „Alles, bloß keine Exotik“ – das war Michael Laubs Motto für dieses gesamte Projekt.

„In der Bar, in der ich Srey Channthy kennengelernt habe, sang sie Peggy Lees ‚Johnny Guitar’ auf Khmer“, erinnert sich Bandinitiator Poulson. „Ich bin mit diesen Songs aufgewachsen“, sagt die Sängerin. Poulson berichtet von einem Foto aus den Siebzigern, das er in ihrem Dorf sah. Srey als Kind in kurzen Hosen, neben ihr der Vater in Militäruniform, in der Mitte zwischen ihnen ein Transistorradio. Und im Hintergrund ein riesiger Panzer.

HAU 1 + 2, Do 16. bis So 19.1.

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