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Im Schutz von Nato-Helikoptern. Afghanische Kinder Anfang August 2014 beim Ballspielen. Im Hintergrund die Bergspitze des Wazir Akbar Khan.

© AFP/Wakil Kohsar

Weltgeschichte der Kindheit: Der Bauch und die Rippen

Was sollen, was müssen Kinder lernen? Michaela Schonhöft reiste drei Jahre lang durch die Welt, um es herauszufinden.

Von Caroline Fetscher

In den 60er Jahren bekamen wir Kinder einen Fotoband in die Hand gedrückt: „Kinder aus aller Welt“. So gut wie jedes Bild schien eine Geschichte zu erzählen. Der zufriedene russische Junge mit Pelzmütze und einem Riesenlaib Brot, die thailändischen Geschwister, die auf einer geflochtenen Matte am Boden schlafen, das polnische Mädchen, das chaotische Kreise an eine Tafel zeichnet. Bettelnde Kinder, uniformierte Kinder, spielende Kinder, im Kongo, in Texas, in der Schweiz oder Brasilien. Ein magerer Junge hockte mit sich abzeichnenden Rippen vor einer feist strahlenden Reisverkäuferin. Kinder in Armut, Kinder im Wohlstand – und das Aufeinanderprallen von beidem.

Die meisten Aufnahmen wirkten nicht nur tauglich für Magnum, viele Fotografen gehörten auch zu dieser Agentur. Der kleine Band, 1958 im Münchner Verlag von Hans Reich erschienen, war so etwas wie eine Kompaktsoziologie der Erde. Ohne dass nur ein didaktisches Wort darin stand, war es ein herausragendes Lehrbuch. Seine Bilder haben sich festgesetzt, als hätte man sie in Wirklichkeit gesehen.

An einer Weltgeschichte der Kindheit haben sich bisher nur der amerikanische Sozialwissenschaftler Lloyd de Mause und der französische Historiker Philippe Ariès versucht. Jetzt hat die Berliner Journalistin und Soziologin Michaele Schonhöft „eine Reise um die Welt zu den Familien dieser Erde und ihren Vorstellungen von glücklichen Kindheiten“ unternommen. Für „Kindheiten“ (Pattloch, München, 2014, 83 S., 19 €) bereiste sie drei Jahre lang Europa, die USA, Südamerika, Asien und Afrika. Einen wissenschaftlichen Anspruch kann und will ihr Buch nicht erheben, vielmehr möchte es Fenster in möglichst viele Gesellschaften öffnen. Was sollen, müssen Kinder lernen, etwa in der Höflichkeitskultur Japans, die Ruth Benedicts Klassiker „Chrysantheme und Schwert“ 1944 so eindrucksvoll beschrieb? Was ist von dieser Kulturpraxis übrig in der Ära des Internets, der elektronischen Spielzeuge und des massiven Konkurrenzdrucks an den Schulen? In diesen Tagen der Debatte um das Recht auf Kitaplätze und den Zweck des unsinnigen Betreuungsgeldes bietet Schonhöfts sehr lesbar verfasster Text Impulse zum Weiterdenken.

Offen und nicht deterministisch ist der Ansatz der Autorin, sie ist dem Wandel von Erziehung in Ballungsräumen und im entlegenen Hinterland auf der Spur, sie hat Eltern, Kinder, Ethnologen, Neurowissenschaftler und Bildungsforscher interviewt und blickt auch in historische Quellen wie Johanna Haarers berüchtigten Erziehungsratgeber im Nationalsozialismus, der den „lieben Müttern“ möglichst viel Härte und Kälte auch mit Säuglingen empfahl und noch bis in die 60er Jahre in leicht entnazifizierter Form neu aufgelegt wurde. Zitiert wird auch Margaret Meads berühmte Studie „Coming of Age in Samoa“, in der die Ethnologin berichtete, dass es in der von ihr beobachteten Gesellschaft das Phänomen der Pubertät, der Konflikte zwischen den Generationen nicht gebe. Im zyklischen Weltbild ist weder Platz noch Bedarf für den Fortschritt, der Konflikte mit sich bringt. Heute, in der medialisierten Welt, ist er nirgends mehr aufzuhalten.

In den Industrienationen mit ihrer permanenten technologischen Revolution ist die elterliche Ratsuche enorm. Verwirrende Skalen und Messwerte für IQ und EQ kursieren, Noten und Prüfungen drohen, Normen zerfallen und werden ersetzt, Eltern wie Kinder scheinen überfordert. So kommt Schonhöft zu dem wenig überraschenden Schluss, dass Väter und Mütter überall die Unterstützung der Gesellschaft brauchen, des Umfelds. „Es braucht eben ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Und dieses Dorf kann überall sein, in Oberfranken, einem Hochhaus in Tokio, der argentinischen Pampa oder in den Rocky Mountains.“ In der Fantasie kann so ein neues Projekt entstehen: eine viele Bände umfassende Feldforschung von mehreren Teams um den gesamten Globus. Wer diese Phase des rasenden Umbruchs erfassen, den Wandel der Kindheit dokumentieren und analysieren will, der müsste sich jetzt auf den Weg machen in alle Himmelsrichtungen. Die Subjekte der Geschichte werden sie selber später kaum rekonstruieren können.

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