zum Hauptinhalt

Kultur: Wem die Stunde schlägt

Plötzlich kommt doch noch Bewegung in die Menschenmenge.Wie aus dem Nichts erhebt sich ein Wind, ächzend beginnt sich der kegelförmige Bretterboden zu drehen, und auch die anderthalb Dutzend Figuren, die bislang im feierlichen Ernst über die Bühne geschritten waren, fangen jetzt an zu laufen, stürzen und taumeln.

Plötzlich kommt doch noch Bewegung in die Menschenmenge.Wie aus dem Nichts erhebt sich ein Wind, ächzend beginnt sich der kegelförmige Bretterboden zu drehen, und auch die anderthalb Dutzend Figuren, die bislang im feierlichen Ernst über die Bühne geschritten waren, fangen jetzt an zu laufen, stürzen und taumeln.Sie drängen zur Bühnenmitte, wo sich ein uniformierter Ledermann aufgebaut hat, der drohend seinen Schlagstock schwingt: "Sind die, deren Stunde geschlagen hat, bereit?" Alle schreien: "Hier sind wir!", denn natürlich möchte jeder vom Gevatter Zeit aus dieser öden Wartehalle mitgenommen werden ins richtige Leben.Doch der Gevatter knurrt bloß: "Uns bleiben noch sechshundertzwölf Sekunden!" Wieder beginnt ein Geraufe, Gerenne und Gekeife, bis ein Ruf aus dem Zuschauerraum das Spiel unterbricht: "Danke, sehr schön.Aber die Bewegungen müssen jetzt wieder ganz langsam werden."

Wir befinden uns in der Vergangenheit der Zukunft und damit mitten in der Gegenwart des Berliner Theaters.Die Stimme aus dem Off gehört Thomas Ostermeier, der mit einem sechzehnköpfigen Schauspielerensemble im Deutschen Theater "Der blaue Vogel" probt, Maurice Maeterlincks die Grenzen von Zeit und Raum lustvoll überspringendes Märchenspiel aus dem Jahr 1908.Es ist später Mittwochabend, bis zur Premiere bleiben Ostermeier zwar nicht sechshundertzwölf Sekunden, aber auch bloß knappe sechs Tage.Noch klappen die Übergänge zwischen den Szenen nicht, immer wieder verpaßt ein Darsteller seinen Einsatz, und dann klemmt auch noch ein Vorhang.Der Regisseur macht trotzdem einen zufriedenen, demonstrativ gelassenen Eindruck.Auf seinem Platz in der Mitte der zweiten Reihe ist er ganz nach vorne gerutscht, von hinten sind seine großen Ohren deutlich zu erkennen, die rötlich leuchten wie bei einem Schulkind, das sich zum ersten Mal ins Theater geschlichen hat.Seine Kommentare - "Sag das noch einmal, Thomas!", "Spannung halten!", "Große Schritte machen!" - sind keine Ermahnungen, sondern eher Anfeuerungen.Manchmal hält es ihn vor Ungeduld nicht auf dem Sessel.Dann springt er auf die Bühne, um seinen Schauspielern zu zeigen, wie sie gehen, stehen, blicken sollen.Selbst wenn er dabei einmal laut wird: Sanft klingt seine Stimme auch dann noch.

Ostermeier, mit seinen 30 Jahren die derzeit größte deutsche Theaterhoffnung, ist ein bekennender Teamworker.Von Kollegen, die ihre Mitarbeiter bei der Probe zusammenbrüllen, hält er nichts."Kreativität kann ich mir unter Druck nur schwer vorstellen", sagt er, "wenn ich morgens ins Theater komme, will ich mich dort geborgen fühlen.Jemand, der Angst verbreitet, wird keine Geborgenheit finden." Erfolg - davon ist er überzeugt - kann nur ein Regisseur haben, der seine Schauspieler liebt.Und Ostermeier hat Erfolg.Aus der unscheinbaren "Baracke", deren Leitung der Absolvent der Ernst-Busch-Schauspielschule mit dem gleichaltrigen Dramaturgen Jens Hillje vor gut zwei Jahren übernommen hatte, machte er innerhalb kürzester Zeit einen funkelnden Theater-Solitär, dessen Glanz inzwischen sogar das Deutsche Theater, das altehrwürdige Mutterhaus gleich nebenan, zu überstrahlen beginnt.Erst im Herbst wurde der ständig ausverkaufte Schauspiel-Container zum "Theater des Jahres" gewählt, beim letzten Berliner Theatertreffen war Ostermeier gleich mit zwei Inszenierungen eingeladen, und um Gastspiele der jungen Truppe von der Schumannstraße reißen sich die Veranstalter inzwischen von Paris bis Moskau.

Ostermeier ist an dem Punkt angelangt, wo ihm der eigene Erfolg unheimlich zu werden beginnt: Daß sich zur Premiere des "Blauen Vogels" 180 Journalisten angemeldet haben, findet er "absurd".Die geballte Medienaufmerksamkeit gilt einem Theaterereignis der besonderen Art."Der blaue Vogel" ist die erste Inszenierung des Regiestars auf der großen Bühne des Deutschen Theaters - und gleichzeitig seine letzte.Anfang des nächsten Jahres wird der Baracken-Chef eine neue, ungleich schwierigere Aufgabe übernehmen: die Intendanz der Schaubühne.Daß mancher Kritiker, der ihm bislang applaudierte, ihn nun gerne straucheln sehen würde, ist für Ostermeier kein Grund, nervös zu werden."Mein Lampenfieber ist nicht schlimmer als sonst auch.Der Druck war vor jeder Premiere groß."

Wir sitzen inzwischen in einem Café am Schiffbauerdamm.Es geht auf Mitternacht zu, Ostermeier hat einen 16-Stunden-Arbeitstag hinter sich.Seine Augen blitzen hellwach, auch wenn unter ihnen dunkle Ringe liegen.Seit Anfang des Jahres haben sich die Proben zum "Blauen Vogel" zum Rund-um-die-Uhr-Projekt ausgewachsen.Angefangen hatte die Arbeit des Ensembles im Oktober mit einem zweiwöchigen Tanztraining, bis heute beginnt jeder Tag auf der Bühne mit einem gemeinsamen Einsingen.Ostermeier geht es darum, die Formensprache seiner Schauspieler "spielerisch weiterzuentwickeln", noch wichtiger ist ihm aber, in der aus Baracke-Youngstern und DT-Altstars zusammengewürfelten Truppe "Berührungsängste abzubauen und Nähe herzustellen".Dieser Regisseur ist das, was man mit einem aus der Mode gekommenen Wort "Spielleiter" nennt: Seine Arbeit beginnt und endet bei den Schauspielern, nicht beim Text."Einen guten Text kann ich auch lesen, den muß ich nicht auf der Bühne sehen." Grinsend fügt er hinzu: "Für mich ist der Schauspieler der eigentliche Autor."

Für Ostermeiers Darsteller bietet "Der blaue Vogel" reichlich Gelegenheit, sich auszuzeichnen.Das Stück, in dem die beiden Kinder Tyltyl und Mytyl eine Odyssee durch Wälder, Paläste, Zukunft und Vergangenheit antreten, besteht aus lauter Hauptrollen.Die 16 Schauspieler wechseln zwischen rund 80 Rollen hin und her, dabei gilt es auch so abstrakte Dinge wie "Feuer", "Schlaf" oder "Tod" zu spielen.Daß er nach spektakulären Zeitdramen wie "Shoppen & Ficken" und "Disco Pigs" nun ausgerechnet ein symbolistisches Märchen inszeniert, sieht Ostermeier als konsequente Weiterentwicklung seiner Arbeit."Seit meiner Zeit auf der Theaterschule habe ich immer zwei Schienen verfolgt: Gegenwartsdramatik und die klassische Moderne des frühen 20.Jahrhunderts.Das wird auch in Zukunft so bleiben." Zukunft: über seine Pläne für die Schaubühne will der künftige Intendant noch nicht reden.Bloß daß es eine Einheitsgage für alle künstlerisch Beschäftigten geben soll, verrät er schon mal.So etwas stärkt das Wir-Gefühl.Als wir uns verabschieden, hat der neue Tag schon begonnen.Ostermeier bleibt sitzen.Er muß mit dem Dramaturgen noch den Text für morgen durchgehen.Die nächste Probe ist immer die schwerste.

Premiere von "Der blaue Vogel" im Deutschen Theater: Dienstag, 19.30 Uhr

CHRISTIAN SCHRÖDER

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false